Auf dem Darß kann man auf einem Rundwanderweg gewissermaßen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart laufen. Die natürliche Sukzession lässt sich hier auf vier Kilometern nämlich ganz anschaulich erleben.
Lutz Storm sieht aus, wie ein Ranger aussehen muss: wetterfeste Klamotte, derbe Schuhe, Fernglas um den Hals. Okay, der typische Rangerhut fehlt, aber der ist hier an der windigen Ostseeküste wahrscheinlich auch nicht immer die allerbeste Wahl. Der Ranger vom Nationalparkamt Vorpommern begleitet uns heute auf dem Rundweg Darßer Ort an Mecklenburg-Vorpommerns Ostseeküste. Vom Natureum am Leuchtturm werden wir auf rund vier Kilometern die natürliche Sukzession an der Küste erleben. Wir werden von der Weiß- über die Braundüne, entlang einer Sumpflandschaft und schließlich durch Erlenbruch-, Kiefern- und Buchenwald laufen. Und sogar Rothirsche sehen.
Überblick vom Leuchtturm
Wir stehen auf dem Leuchtturm Darßer Ort. Unten laufen wie auf einer Ameisenstraße Menschen in Richtung Strand, leuchten gelb, rot und türkis in ihren Jacken. Der rote Ziegelturm mit seiner gusseisernen, grün angemalten Wendeltreppe stammt aus dem Jahr 1848 und ist damit einer der ältesten an der deutschen Ostseeküste. Einst endete hier der Darß, denn früher verlief an dieser Stelle die Küste. Die Ostsee
und der Wind haben seitdem stetig am Weststrand genagt und den Sand in Jahrzehnten und -hunderten ab- und als Windwatt im Norden wieder aufgebaut. Heute erstreckt sich der Darß also viel weiter gen Norden und schließt am Ende mit einem großen Strandwall ab, der als Sandhaken ins Meer wächst. Irgendwann wird auch dort Wald wachsen. Ranger Lutz Storm zeigt auf den Strand, der sich in der Ferne verliert: „Die Natur macht hier am Bodden, was sie will.“ Jeder Sturm, jedes Hochwasser verfrachtet ein wenig Sand an andere Stelle. Dünen wachsen und vergehen wieder. Pflanzen siedeln sich an, lassen in Jahrhunderten irgendwann dort Wald wachsen, wo zuvor nur nackte Düne war.
Durch die Zeit wandern
„Der Rundwanderweg Darßer Ort ist eine Wanderung durch die Jahrhunderte, vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart“, erklärt Storm. Inzwischen sind wir vom Turm runter und wandern am Strand entlang gen Norden. Linkerhand rollen kleine Wellen ans Ufer, rechts von uns erheben sich Dünen. Tang liegt angespült auf dem Sand, der letzte Sturm hat außerdem neue Muschelschalen und Steine aus den Tiefen der Ostsee ans Ufer geworfen. Ich entecke Feuersteine neben rund geschliffenen Graniten und rot gesprenkelten Porphyren. Skandinavien lässt grüßen.
Nach ein paar hundert Metern endet der Strandweg an einem Holzzaun. Dahinter beginnt die Kernzone des Nationalparks. Hier ist der Zutritt verboten, damit die Natur sich ungestört entwickeln kann. Damit kein menschlicher Fuß zum Beispiel die kleinen Strandkäfer zertritt, die hier leben. Lutz Storm deutet auf den Strand hinter der Absperrung: „Seht ihr den Unterschied? Das ist ein Naturstrand.“ Und tatsächlich sieht der Strand anders aus als hier vorne, wo die Besucher herumlaufen. Algen bilden dort eine dunkle Schicht auf dem Sand, während er hier vorne blank und hell Sand zutage kommt.
Auf Bohlen durch die Dünen
Wir verlassen den Strand, biegen rechts ab in die mit Strandhafer bewachsenen Dünen. Eine Landschaft aus sanften Hügeln, Strandseen und Sümpfen erwartet uns. Mitten hindurch führt ein hölzerner Bohlenweg. Rechterhand breitet eine Solitär-Kiefer weit ihre Äste aus. Stetig der Witterung ausgesetzt, ist sie statt in die Höhe in die Breite gewachsen, duckt sich fast an den Boden und ist dabei bestimmt 15 Meter im Durchmesser groß. Der Ranger erklärt die natürliche Sukzession am Darßer Ort: Auf der nackten Düne, der sogenannten Weißdüne, siedeln sich zuerst Strandhafer und Krähenbeere an.
Zwischen der grünen Krähenbeere wächst außerdem staubgrüne Rentierflechte. Die Flechte, die ich aus Skandinavien kenne, ist hier ein eiszeitliches Relikt. Und wie viele Flechten sehr empfindlich. Zertritt man sie, braucht sie Jahrhunderte, um wieder so groß zu werden wie jetzt. Die Pflanze, eine Symbiose aus Alge und Pilz, wächst nämlich tatsächlich nur einen winzigen Millimeter im Jahr. Auch deswegen leitet man die Besucher über den Holzsteg. Wenn der Boden mit Pflanzen bedeckt ist, siedeln sich irgendwann die ersten einzelnen Kiefern an und bilden später einen Kiefernwald, erzählt Storm weiter. Der Wald geht danach in einen Kiefer-Ebereschenwald über. Und schließlich, weiter im Landesinneren und auf einer dickeren Humusschicht, bildet sich ein Buchenwald. In feuchten Senken dominiert dort aber weiterhin, wie in vielen heimischen Wäldern, die Erle.
Bei den Rothirschen
Wir passieren zwei hölzerne Aussichtspunkte, werfen vom zweiten einen Blick in die Weite der Landschaft, in die sich Strandseen schmiegen. Anschließend biegen wir rechts ab –
und stutzen. Was machen die vielen Fotografen hier? Mehrere Stative reihen sich nebeneinander auf, mit beeindruckenden Kameras oben darauf. Lutz Storm zeigt in die offene Landschaft. Da hinten hat sich gerade etwas bewegt. Ein paar große Ohren und ein Kopf sind auf- und schnell wieder abgetaucht. Da, noch einer! Mehrere Hirschkühe verstecken sich zwischen den Pflanzen. Und dann lässt sich etwas entfernt von den weiblichen Tieren auch kurz ein Geweih blicken. Wir lernen: Hirsche sind eigentlich Steppenbewohner, die bei uns mangels offener Landschaften häufig in den Wald zurückgedrängt leben. Etwas weiter ermöglicht ein Beobachtungsstand einen noch besseren Überblick über die Brunftarena.
Im Wald
Ein letztes Mal biegen wir rechts ab und sind nach kurzer Zeit wieder von Wald umgeben. Die Küste liegt inzwischen an die fünfhundert Meter hinter uns. Hier hat sich schon so viel Humus gebildet, dass große Bäume wachsen und sich ernähren können. „Nationalparke sind Lernorte, auch für Experten, etwa für Förster“, erklärt Storm. Da ist zum Beispiel der üppige Erlenbruchwald, an dem wir nun vorbeikommen. Keiner hatte damit gerechnet, dass hier wieder Erlen wachsen würden, nachdem der Sumpf über Jahre ausgetrocknet war.
Doch nach dem regenreichen Jahr 2011 stand die Fläche wieder komplett unter Wasser. Und die Folge überraschte auch so manchen Förster: Schon im nächsten Frühjahr wuchsen hier die ersten Erlen aus Samen, die offenbar jahrelang im Boden überdauert hatten. Inzwischen sind sie in nur wenigen Jahren üppig und groß geworden. „Lasst den Wald machen, lasst die Dinge einfach großräumig geschehen“, sagt Storm. Er glaubt auch, dass der Wald mit dem menschengemachten Klimawandel, mit höheren Temperaturen und längeren Dürreperioden klarkommen kann. „Der Wald hat Millionen Jahre Erfahrung, auch mit Dürren, der schafft das“, sagt er voller Überzeugung. Und auf jeden Fall ist der Wald wichtig für unser Überleben: „Naturschutz ist Menschenschutz.“
Am Mittelweg
Einige Kilometer südlich des Darßer Orts zeigt sich der Darßwald in seiner ganzen Schönheit. Wie unzählige andere Besucher auch, haben wir uns aufs Fahrrad geschwungen, um hierher zu gelangen. Autos sind hier verboten. Am Ende des Radwegs parken zahllose Fahrräder.
Am Ende des Mittelwegs heben sich am Strand einzelne Bäume fast kahl gegen den Himmel ab. Sie haben ihre Äste von der Ostsee weg und deutlich in Richtung Darßwald gebogen – vom steten Wind gebeugt. Nur ganz oben tragen diese Windflüchter Laub. Es ist wirklich ein ganz besonderer Wald hier auf dem Darß, ständig den Kräften der Natur ausgesetzt. Die Bäume sind zwar krumm, wirken dabei aber irgendwie, ja – trotzig. Der Wind kann sie formen, aber er kann ihnen nichts anhaben.
Eine Gefahr für die Windflüchter direkt hinter dem Strand und für die Dünen, auf denen sie wachsen, sind leider auch hier wieder die Menschen. Immer wieder halten sich einzelne Besucher*innen nicht an das Wegegebot, das im Nationalpark gilt. Sie laufen für ein besonders schönes Foto durch die Dünen und legen so unbeabsichtigt den nackten Sand frei. Die Düne verschwindet in der Folge durch Winderosion – und mit ihr die Bäume.
Infos zur Region
Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft
1990 in der ganz jung wiedervereinten Bundesrepublik gegründet, ist der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft 786 Quadratkilometer groß. Bodden sind im Prinzip Lagunen der Ostsee und oft sehr flach. Und die Landschaft ist ständig in Bewegung: Alle Entwicklungsstufen, vom Windwatt über die Düne, Heide, Moor und Wald, sind hier nebeneinander vorhanden. Wind und Wasser bauen die Landschaft ständig um, nehmen hier etwas weg, häufen dort neuen Sand an. Neben dem Rothirsch ist der Nationalpark für seine Kraniche berühmt. Zehntausende „Vögel des Glücks“ rasten hier im Frühling und Herbst auf ihrem Zug in oder vom Süden.
Natur und Landschaft lassen sich am besten auf einer geführten Tour erleben. Die bietet das Nationalparkamt Vorpommern normalerweise regelmäßig an, derzeit (Stand Oktober 2020) coronabedingt allerdings nur als angemeldete Sonderveranstaltungen.
Schutzzonen im Nationalpark
Der Nationalpark ist in drei Zonen unterteilt. In der Kernzone oder Zone 1 liegen die wertvollsten Wildnisgebiete. Hier soll sich die Natur ungestört entwickeln. Menschen müssen draußen oder zumindest unbedingt auf den Wegen bleiben. In den Entwicklungszonen (Zone 2) erfolgen gezielte Maßnahmen hin zu mehr Wildnis. Und in den Pflegezonen mit besonders seltenen Landschaftstypen wie Heiden oder Salzgraswiesen setzt man auch schon mal Weidetiere ein, um die typische Flora und Fauna zu erhalten.
Infos zum Darß und zu ganz Mecklenburg-Vorpommern: www.auf-nach-mv.de
Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft: www.nationalpark-vorpommersche-boddenlandschaft.de
Natureum und Leuchtturm Darßer Ort: www.natureum-darss.de
Den Nationalpark habe ich mit Unterstützung des Tourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen einer Pressereise besucht.
Wunderschön ist es dort ! Vielen Dank fürs Mitnehmen ! 🙂
Ja, einfach eine super schöne Landschaft, bei der man die Kräfte der Natur so eindrucksvoll sieht und spürt…
Liebe Grüße!
Tolle Landschaft, sehr schöne Bilder!
Danke!