nah dran, natürlich, Reisen
Schreibe einen Kommentar

Réttir – Wenn auf Island die Schafe nach Hause kommen…

Oder besser: nach Hause geholt werden – auch Island hat seinen „Almabtrieb“. Die warme Jahreszeit verbringen die meisten grasfressenden Wolllieferanten halbwild im kargen Hochland der Nordmeer-Insel. Doch jetzt im Herbst kommen sie zurück in die Zivilisation.

Meist ist es ruhig, fast einsam im breiten, flachen Tal. Mal ein Dorf, eine Kirche, ein Hof, an dem vorbei die schmale Straße durch die Natur führt. Touristen kommen eher selten hierher. Hinten am Horizont liegt irgendwo der Eyjafjallajökull, der berühmt-berüchtigte Vulkan. Ein leichter Dunst verhüllt die grüne, leicht hügelige Landschaft, darüber scheint die Sonne, dazu ein leichter Wind. Und ich sitze hoch zu Ross. Na ja, eher niedrig zu Ross, denn so groß werden Islandpferde ja nicht. Aber dafür zäh und ausdauernd…

Hochbetrieb mit Schafen


Heute ist das Tal alles andere als ruhig. Überall wuselt es, Blöken von allen Seiten hängt in der Luft, dazu ein vielfaches „Heyy!“ und „Huh!“. Menschen auf Pferden oder zu Fuß, ein paar Autos, Hunde – und unzählige Schafe. Und überall geht es nur in eine Richtung: langsam, aber sicher talabwärts. Nach Hause. Die Schafe kommen heim nach einem langen Sommer im einsamen Hochland, wo sie frei und ungestört ihr Futter suchen – Flechten und Gräser finden sich immer – und ihre Wolle wachsen lassen.

Aber wenn im Herbst  das Klima dort sehr schnell sehr rau wird, manchmal schon mit Schneesturm im September, holt man lieber seine „Schäfchen ins Trockene“. Näher zum Dorf. Manches Schaf wird bald als Leckerbissen auf dem Teller landen. Und außerdem will die Wolle geschoren werden: Viele um mich herum tragen die typisch gemusterten Islandpullover, „lopapeysa“ genannt – nicht gefärbt, das ist Ehrensache, sondern aus weißer, grauer, karamellfarbener und fast schwarzer Wolle gestrickt.

Genau in den Farben laufen die Tiere auch um uns herum – rund 30 verschiedene Wollfärbungen soll es auf Island geben. Schaf ist halt nicht gleich Schaf – auch wenn die allermeisten weiß sind. Oder gerade schmutziggrau… Viele haben Hörner, nicht nur die Böcke, was morgen noch praktisch sein wird.

Blick von hoch zu Ross

Schafe und Pferde zu Tal

In die Berge und wieder hinunter, so hielten es schon die Wikinger-Vorfahren vor mehr als tausend Jahren. Mancherorts, vor allem in Nord-Island, leben übrigens auch Pferde halbwild im Hochland. Und im Herbst dann folgt das Einsammeln, das Zählen und Sortieren – auch in Island gibt’s Ohrmarken -, bevor jeder seine eigenen Tiere wieder mit nach Hause nehmen kann.

Das ganze Dorf hilft mit. Und auch manche aus der Stadt, denn viele Isländer haben „daheim“, im Ursprungsdorf ihrer Familie, noch ein paar Schafe. Dabei sein ist nicht nur Ehrensache, sondern auch ein großer Spaß: Alte Freunde wiedertreffen, mit aller Kraft erleben und auch müde Knochen und blaue Flecken mit nach Hause nehmen. Zwei bis drei Tage kann ein Réttir dauern, und manchmal pfeffert das Wetter auch Regen oder Hagelschauer dazwischen – kein Wunder, dass im Anschluss ein Fest steigt.

Immer vorwärts

Gestern sind die ersten schon ins zerklüftete Hochland gezogen, um die vierbeinigen Wollknäuel einzusammeln – per Pferd und mit Hilfe von Hütehunden, denn manche wollen oben garnicht weg… An anderen Orten fahren auch Quads mit, aber hier knattert es nicht. Inzwischen ziehen Tausende von Schafen das breite Tal entlang, durch das sich neben der Schotterstraße auch ein paar Bächlein schlängeln.

Die Straße, ach ja. Wer jetzt mit dem Auto durch will, hat schlechte Karten…Schafe haben heute „Vorfahrt“. Gaaaanz langsam kann man doch durch die Herde tuckern, die zum Ende immer größer wird. So manches Schaf wandert aber auch noch quer durch die Schwemmlandebene, irrt in der Richtung oder traut sich nicht über den Bach. Dafür sind die Reiter und Hunde unterwegs, wie Sigurður, der schon als Fünfjähriger das erste Mal mitreiten durfte.

„Nach Hause kriegen wir sie jedes Jahr“, lacht Sigurður. Immer mal wieder brauchen die Tiere eine Pause. Die fußlahmen oder verletzten dürfen im Autoanhänger mit. Und die Menschen machen auch mal Stopp an den „Versorgungsautos“, wo Kaffee und Kakao warten, Islands Nationalgetränke. Und Roggenflachbrot mit Schinken oder süße Engelschichttorte… Dann geht’s weiter, denn bis die Sonne sinkt, muss der Pferch erreicht sein.

Rund 800.000 Schafe gibt es auf der großen Nordmeerinsel, mehr als doppelt so viele wie Einwohner und zehnmal mehr als Islandpferde. Die darf man übrigens auf gar keinen Fall „Pony“ nennen, denn sie gehen als eigene Rasse in direkter Linie auf die in alten Zeiten mitgebrachten Wikingerpferde zurück. Ohne sie hätten die ersten Siedler nur schwer überleben können, sie waren Arbeits-, Last- und Reittiere – und manchmal auch Nahrung in harter Zeit.

Die Ruhe vor dem Sortieren

Und am nächsten Morgen kommen die Schafe – immer schubweise – vom Gehege in einen großen flachen Mauerkreis gebracht, aufgeteilt wie Tortenstücke mit Mittelkreis. Innen stehen die „Sortierer“ und nehmen sich ein Schaf nach dem anderen vor. Auch Kinder dürfen hier schon üben. Die Tiere an den Hörnern halten oder zwischen den Beinen einklemmen und die Ohrmarken ablesen.

 

Gar nicht so einfach ist das, denn in der Enge sind die Tiere ziemlich zickig. Sigurður ist auch im vollen Einsatz. Als Tourist ist man hier nur Zuschauer… Ein paar Stunden später ist es geschafft. Die Trecker und Anhänger fahren mit ihnen fort, der Kreis wird immer leerer. Und liegt schließlich wieder einsam in der flachen Landschaft, bis zum nächsten Jahr. Erst wenn im Frühjahr die Zippen ihre Lämmer geworfen haben, dürfen alle wieder ins Hochland zurück und ihre Freiheit genießen. Und die Menschen? Feiern und schmausen heute erstmal. Die Woll- und Fleischvorräte sind wieder gesichert – die dunkle Jahreszeit kann kommen!!

GUT ZU WISSEN

  • Wer dabei sein wird (2022 sollte das wieder möglich sein): An rund 150 Orten in Island findet von Ende September bis Anfang Oktober ein Réttir statt, meist am Wochenende. Über Orte zum Zuschauen oder Touren zum Mitreiten informiert Islands Fremdenverkehrsamt Visit Iceland (http://de.visiticeland.com/)
  • Wie man echt isländischen Lammbraten macht, zeigt hier ein ausführliches Kochevent-Video vom Islandpferdeverband und der Firma Vykingir.
  • Island hat übrigens neben IcelandAir (www.icelandair.com) wieder eine Günstig-Fluglinie: PLAY Air (www.flyplay.com), gegründet von Managern der 2019 insolventen WOW Air. PLAY fliegt in Deutschland bislang nur Berlin an.
  • Natürlich gibt’s auch noch mehr Reise-Informationen zu Island bei Visit Iceland (https://de.visiticeland.com/)

 

Mehr Geschichten aus Island? Findet Ihr auch hier:
Über Islands Natur-Schwur, das Baden in Island, die gebackenen Weihnachtssterne mit Rezept oder auch die Sache mit den 13 Weihnachtstrollen

Diese Recherche wurde unterstützt von Tourismus Island

Kategorie: nah dran, natürlich, Reisen

von

"Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon" - so wahr! Also fuhr ich als Kind in Büchern um die Welt, bis nach Taka-Tuka-Land. Heute bin ich "in echt" unterwegs und schreibe manches Buch selber ;) Per Bahn, Pedale, Paddel und per pedes reise ich am liebsten, als Wissenschaftsjournalistin, Reiseautorin und Fotografin immer mit offenem Blick. Und einem Faible für Sprachen. In Bolivien und der Arktis, Australien, China oder Island. Slowenien, Polen. Finnland. Ach... Reisen!

Kommentar verfassen