Eine böse Stiefmutter, ein düsterer Wald, gutherzige Zwerge und ein Prinz als Retter – Schneewittchen hat alles, was ein gutes Märchen braucht. Und die Figur gab es wirklich. Oder doch nicht? Auf Spurensuche in Lohr am Main.
Es war einmal im Winter, die Schneeflocken fielen von Himmel herab. Eine Königin saß am Fenster und nähte. Sie stach sich in den Finger und drei Blutstropfen fielen in den Schnee. Sie klagte: „Ach, hätte ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz.“ Bald ging ihr Wunsch in Erfüllung und die Tochter wurde Schneewittchen genannt. Die Königin starb und der König nahm sich eine andere Frau. Die war schön und hochmütig. Oft trat sie vor den Spiegel und fragte: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“
Luisa Damm steht als Schneewittchen verkleidet vor dem Schloss. Die 25-Jährige ist eine von derzeit zwölf Schneewittchen-Darstellerinnen, alle haben lange dunkle Haare, einen blassen Teint und tragen einen Korb mit Äpfeln der Sorte Rambour, die hier angebaut wird. Wir sind in Lohr am Main.
Fachwerk und Renaissance
In der Lohrer Fußgängerzone reihen sich Fachwerkhäuser aneinander. Ihre Fassaden sind weiß oder gelb, die Balken braun, rot, manchmal blau – und, typisch Fränkisches Fachwerk, zum Teil gebogen und mit verspielten Elementen versehen. Dazwischen stehen Renaissancegebäude, denn Lohr war im 15. und 16. Jahrhundert eine typische Renaissancestadt.

Fachwerk und Wappen
Am unteren Ende der Fußgängerzone rechts abgebogen, erhebt sich der 1385 fertiggestellte Bayerturm. Er war einst der Hauptturm der Stadtbefestigung und ist nicht nach dem Bundesland, in dem er heute steht, sondern nach der damaligen Türmer- oder Torwächterfamilie Bayer benannt. Der Famileinname Grimm ist in der Region übrigens auch nicht selten.
Der Stadtwächter und seine Familie lebte oben in einer kleinen, zweigeschossigen Wohnung. Nach 140 Stufen überblickt man von dort auch heute noch die 16.000-Einwohner-Stadt Lohr. Direkt hinter dem Turm beginnt das Fischerviertel mit bunten Fachwerkhäuschen in der Fischer- und der Muschelgasse bis hinab zum Main.

Lohrs Fischerviertel
Schneewittchens Familiengeschichte
Oberhalb der Fußgängerzone steht das elfenbeinfarbene Schneewittchenschloss mit seinen runden Türmen. Eine Brücke und ein Graben verraten, dass das Schloss einst eine Burg war. Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert. Gut hundert Jahre später begann der Umbau zum Schloss. Ein Scherenschnitt aus Metall zeigt Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Grimm´schen Märchen als Silhouette vor dem Schloss. Es beherbergt heute das Spessartmuseum.
Schneewittchen wuchs heran und wurde immer schöner. Und so sprach der Spiegel eines Tages wahrheitsgemäß: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist noch tausend Mal schöner als Ihr.“ Die Königin war außer sich und schmiedete einen hinterhältigen Plan. Ein Jäger sollte Schneewittchen in den Wald bringen und töten.
Doch erst noch ein wenig Familiengeschichte: Am 19. Juni 1725 erblickte Schneewittchen als Maria Sophia Margaretha Katharina Freifräulein vor Erthal in eben diesem Schloss das Licht der Welt. Ihr Vater Freiherr Philipp Christoph von Erthal wohnte mit seiner Familie im Schloss, weil es sein Amtssitz als Oberamtmann war. Schneewittchens Mutter war Maria Eva von Erthal. Sie starb, als Maria Sophia 13 Jahre alt war. Der Vater heiratete ein weiteres Mal, seine zweite Ehefrau und Schneewittchens Stiefmutter hieß Claudia Elisabeth von Erthal. Die Stiefmutter galt als böse, herrschsüchtig und ungerecht. Schneewittchens Brüder, Friedrich Karl und Franz Ludwig von Erthal, wurden später die Fürstbischöfe von Mainz bzw. Würzburg.
Die drei Fabulologen
Es war im Jahr 1986, als dem Apotheker und Historiker Karlheinz Bartels Parallelen im Märchen Schneewittchen zur Stadt Lohr auffielen. Zusammen mit seinen Freunden Helmuth Walch und Werner Loibl ersann er daraufhin, zuerst noch als Spaß, im Weinhaus Mehling weitere Beweise, dass Schneewittchen eine Lohrerin gewesen sein musste. Die Familiengeschichte der von Erthals, die Glas- und Spiegelmanufakturen in der Region, der Spessart mit seiner Bergbautradition rund um den Ort Bieber, der Apfelanbau – alles passte zusammen.

Das Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge gibt es als natürlich auch als Puppenspiel
Und so lösten die drei selbsternannten Fabulologen, (also Märchenwissenschaftler – eine neu geschaffene Bezeichnung, die es übrigens nur in Lohr gibt) in den folgenden Jahren einen Schneewittchen-Rummel aus. Es folgten Medien-Beiträge im In- und Ausland, Briefmarken-Sonderstempel und ein neu eingerichteter Themen-Wanderweg durch den Spessart (der Schneewittchenweg über die sieben Berge erfreut sich bei heute großer Beliebtheit), ein Kunst-Sonderpreis und mehr. Wahn oder Wahrheit? Wer weiß das schon. Auf jeden Fall macht es Spaß.
Im Schneewittchen-Schloss
Das Schloss zu Lohr beherbergt heute also das Spessartmuseum. Nehmt euch Zeit dafür: Es lädt auf mehr als zweitausend Quadratmetern ein auf eine Zeitreise in einem der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands. Der Spessart ist schon lange ein Ort des Bergbaus und adliges Jagdrevier, ein finsterer Wald – und er brachte vor rund 300 Jahren einige Eisen- und Glasbetriebe hervor. Weit über die Region bekannt sind vor allem die Spessart-Räuber durch die klamaukige Filmkomödie Das Wirtshaus im Spessart, die auf einer Novelle von Wilhelm Hauff basiert. Den historischen Spessart-Räubern und der Wilderei widmet sich ein eigener Raum in der Ausstellung.
Im Schneewittchenzimmer ist die dunkelgrüne Tapete aus Seide und Leinen original erhalten. Vielleicht saß hier einst Schneewittchens Mutter am Fenster, stickte und stach sich dabei in den Finger?

Das Schneewittchenzimmer im Lohrer Schloss
Der sprechende Spiegel
Das wichtigste Ausstellungsstück im Schloss ist jedoch der sprechende Spiegel. Er stammt aus der Kurmainischen Spiegelmanufaktur Lohr, die ab dem 18. Jahrhundert hochwertiges Glas und auch Spiegel in Lohr herstellte.
Der berühmte sprechende Spiegel war vermutlich ein Geschenk von Freiherr Philipp Christoph von Erthal an seine zweite Frau Claudia Elisabeth, Schneewittchens böse Stiefmutter. Er enthält links oben ein Feld mit dem Spruch „Pour la Reponse et pour la Peime“ (Zur Belohnung und zur Strafe), rechts steht „Amour Propre“ (Eigenliebe).
Auf dem Schneewittchenweg
Es tropft beständig von den Buchen. Ein beruhigendes Geräusch. Der Mischwald hat sich in Nieselregen gehüllt, es riecht nach Pilzen. Herbst. Wir stehen in einer ehemaligen Bergbaulandschaft, erzählt Dr. Gerrit Himmelsbach vom Archäologischen Spessart-Projekt. „Zwerge“ gab es also wirklich im Spessart: Es waren die kleinen, von der gebückten Arbeit oft buckligen Bergarbeiter und Kinder, die in den finsteren Minen schuften mussten.

Unterwegs im Spessart
Wie befohlen machte sich der Jäger auf den Weg und führte Schneewittchen tief in den Wald hinein. Doch er hatte Mitleid und ließ Schneewittchen frei. Das Mädchen irrte durch den Wald, über die sieben Berge, bis es auf ein kleines Häuschen stieß. Niemand war darin, aber es standen sieben Tellerchen und sieben Becherchen auf dem Tisch. Schneewittchen aß und trank ein wenig. Schon bald schlief sie erschöpft auf einem der sieben Bettchen ein.
Wir sind auf dem Schneewittchenweg unterwegs und lernen: Im Roten Buntsandstein fand sich unter anderem Eisenerz, Goethit (ebenfalls ein Eisenmineral) und Kobalt. Damit färbte man Glas blau. 165 Glashütten arbeiteten ab dem 13. Jahrhundert in und um den Ort Bieber. Schneewittchens Glassarg könnte hier also durchaus entstanden sein. Ebenso können die eisernen Pantoffeln der bösen Stiefmutter, in denen sie zu Tode tanzen muss, in den Eisenhütten der Region hergestellt worden sein. Haben die Fabulogen also wirklich ins Schwarze getroffen?
Landschaft im Wandel
Der Spessart wird seit rund 8.000 Jahren bewirtschaftet, zeitweise war er wegen der Landwirtschaft nahezu kahl. Seit dem 18. Jahrhundert pflanzte man dann zunehmend schnell wachsende (aber standortfremde) Nadelbäume in Monokultur, berichtet Dr. Anika Magath, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt.

Mit Gerrit Himmelsbach und Anika Magath durch den Spessart
Heute entwickelt sich (wieder) ein Mischwald, ein „wilder Wald“ wie im Märchen. Am Wiesbüttsee ragen vermodernde Baumstümpfe aus dem Wasser, mystisch, märchenhaft. Ob Schneewittchen auf ihrer Flucht hier vorbeikam? Dann kehrt die Realität zurück: Wenige hundert Meter neben dem Naturschutzgebiet graben sich Harvester durch den Wald, die massiven Maschinen fällen und entästen laut knirschend Bäume und reißen dabei den Waldboden auf.
Das Märchen hingegen endet, wie das bei Märchen oft so ist, für die Protagonistin gut:
Als die Königin wieder einmal vor ihren magischen Spiegel trat, gab er ihr zur Antwort: „Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, doch Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch tausendmal schöner als Ihr.“ Beim nächsten Mal kam die Königin als Bauersfrau verkleidet und bot Schneewittchen einen vergifteten Apfel an. Als Schneewittchen hineinbiss, sank sie sofort leblos zu Boden. Am Abend kehrten die Zwerge zurück und fanden Schneewittchen tot. Sie weinten bitterlich und legten das schöne Kind in einen gläsernen Sarg. Kurz darauf ritt ein Königssohn durch den Wald und bat: „Schenkt mir den Sarg, ich kann nicht mehr leben ohne den Anblick von Schneewittchen.“ Als die Diener den Sarg abholten, stolperten sie, der Sarg fiel ihnen aus den Händen und das giftige Apfelstück rutschte aus Schneewittchens Hals. Im selben Augenblich schlug Schneewittchen die Augen auf.
Eine moderne Skulptur und das Horrorwittchen
Damit könnte alles märchenhaft enden. Aber dann das: Vor gut zehn Jahren ging eine Welle der Empörung durch die Schneewittchenstadt Lohr am Main. Im Jahr 2013 hatte nämlich der Künstler Peter Wittstadt mit seiner modernen Interpretation des Schneewittchens den Ersten Lohrer Kunstpreis gewonnen. Die drei Meter hohe Bronzefigur ist, abends farbig beleuchtet, vor der Stadthalle zu besichtigen.

Kunstwerk des Anstoßes: das moderne Schneewittchen vor der Stadthalle
Ein Lohrer Schüler ließ sich von der Skulptur inspirieren und sprühte ein Graffito, in dem das Schneewittchen mit Messer in der Hand die fliehenden Zwerge verfolgt. Damit traf Valentin Lude einen Nerv. Heute gibt es T-Shirts, Mützen, Tassen und mehr mit dem „Horrorwittchen“ in einem Online-Shop, aber auch in der Lohrer Touristinformation zu kaufen.
Gut zu wissen
Anreise: Nach Lohr am Main fahren Regionalzüge aus Hanau oder Würzburg (beides ICE-Bahnhöfe), ca. 45 min Fahrzeit
Tipp: Die Privataudienz bei der Baroness von Erthal ist eine kurzweilige Kostümführung mit Schneewittchens böser Stiefmutter. Es gibt auch Führungen mit der Fischersfrau, dem Nachtwächter und anderen historischen Figuren.
Spessartmuseum: Schlossplatz 1
Für Kinder: Im Spessartmuseum im Schloss gibt es von April bis Oktober alle zwei Wochen sonntags eine Märchenstunde mit Schneewittchen, durch die Stadt führt eine Schneewittchen-Rallye
Einkehren: Das Gasthaus Schönbrunnen und das benachbarte Weinhaus Mehling servieren traditionelle fränkische Küche
Übernachten: Fünf Minuten vom Schneewittchenschloss liegt das familiengeführte Hotel Bundschuh. Im großen Garten stehen Relax-Liegen aus Holz
Infos zu Lohr am Main: Touristinformation, Schlossplatz 5
Infos zur Region Spessart-Mainland findet ihr hier.
Alle Fotos: (C) Anke Benstem
Der Tourismusverband Spessart-Mainland hat mich eingeladen, die Schneewittchenstadt Lohr am Main und die Brüder Grimm-Stadt Steinau an der Straße kennenzulernen. Über Steinau berichte ich bald in einem zweiten Blogpost.
Lust auf mehr aus der Region? Unterwegs auf dem Main-Radweg, Wandern im Hessischen Kegelspiel, Neu entdeckt: Das Knüllgebirge


Wow, ein wunderbarer Beitrag über meine Heimatstadt! Ich war ganz begeistert beim Lesen – du hast Lohr am Main mit so viel Herz und Liebe zum Detail beschrieben, dass ich mich gleich selbst wieder darin verliebt habe.
Ich freue mich, endlich mal eine Lohr-Homestory zu lesen, die nicht nur „nett“ ist, sondern richtig Lust macht, wieder durch unsere Gassen zu schlendern, durch die Wälder zu wandern und im Museum zu stöbern. Da war ich nämlich schon viel zu lange nicht mehr!
Danke für die liebevolle Arbeit!
Ganz liebe Grüße
Das freut mich zu lesen! Ist aber auch echt märchenhaft dort 🙂
Liebe Grüße zurück!
Anke
Liebe Reisefedern, ich lese eure Familienthemen immer gern und das ist ein toller Tip, denn meine Tochter liebt gerade Märchen total und es ist nicht so weit von uns. Gibt es die Märchenstunde im Schloss nächstes Jahr auch noch?
Liebe Grüße, Sarah
Hallo Sarah, das weiß ich nicht, aber schau dann doch einfach auf die Website, da wirst du alle aktuellen Infos finden.
Liebe Grüße
Anke