Kein Aprilscherz: Sie können es! Ureinwohner regieren erfolgreich ihr eigenes Land. Das haben die Inuit im Norden Kanadas jetzt anderthalb Jahrzehnte lang bewiesen. „Nunavut“ heißt ihre eigener Bundesstaat, wortwörtlich „Unser Land“. Kanadas jüngste Provinz. Ganz schön kalt, meistens, das kann ich bestätigen… Aber auch schön offen und herzlich!
Dabei hatten so viele vorher geunkt, vor allem andere Kanadier, im fernen Süden, dass das nie klappen würde. Dass sie auf ganzer Linie scheitern würden… Weil die Inuit zum Beispiel ein gaaaaanz spezielles Verhältnis zur Zeit haben, aus alter Tradition. Das hat wohl jeder schon mal erlebt, der nördlich des 60. Breitengrads unterwegs war: Da hat man ein Treffen oder soll wo übernachten — und kein
Mensch ist da. Weil jemand Wale in der Bucht gesichtet hat und alle plötzlich zum Jagen weg sind. Da hab‘ ich schon Geschichten gehört von Unterkünften draußen in den kleinen Orten, wo drei Tage lang kein Personal kam – aber es war warm und die Gäste hatten auch so viel Spaß…
Und ja: Tatsächlich sind einige Inuit entwurzelt und arbeitslos und können dem Alkohol schwer widerstehen. Aber andere sind Juristen, Politikerinnen, Filmemacher (Atarnajuat, der nackte Läufer, hat’s doch 2001 sogar in unsere Kinos geschafft), Geschäftsfrauen, Hundetrainer, Designerinnen, bunt gemischt. Nachdem sie lange gekämpft hatten für einen eigenen, selbstverwalteten Bundesstaat, weg vom langen Arm der Zentralregierung in Ottawa, wurde am 1.4.1999 erstmals die Flagge Nunavuts gehisst:
Das Parlament sitzt in der Hauptstadt Iqaluit – dem „Ort der vielen Fische“ – die langsam weiter wächst, mit inzwischen fast 7000 Einwohnern. Zunehmend ziehen auch Nicht-Inuit hierher, für Verwaltung, und immer mehr Bergbau (die Arktis taut auf, Bodenschatz-Alarm!). Trotzdem sind rund 85 Prozent im Land Inuit – in Iqaluit noch knapp 60 Prozent. Und weil immer die eigene Bevölkerung kandidiert, ist das Parlament mehrheitlich indigen und Nunavut somit „von Ureinwohnern selbst verwaltet“. Wo gibt’s das sonst noch auf der Welt?
Die „Elders“, die erfahrenen Ältesten, haben hier übrigens ein ganz besonderes Mitspracherecht – im schicken Parlamentsgebäude, das wie die anderen Häuser hier oben auf Stelzen steht und dessen Sessel mit Seehundsfell bezogen sind.
Es gibt viele Geschichten zu erzählen aus Iqaluit, aus Cape Dorset (Kinngait), aus Rankin Inlet , Pangnirtung, Sanikiluaq und wie sie alle heißen. Alle haben heute einen Namen auf Inuktitut, der seltsamen, melodischen Silbensprache mit durcheinander purzelnden Schriftzeichen wie bei den Cree-Indianern. Übrigens heißt „Inuit“ wortwörtlich „Menschen“. Und einer von ihnen ist ein „Inuk“. „Inukshuk“ die wegweisenden Steinmännchen, die sich auch auf der Flagge Nunavuts – oder als Wahrzeichen der Winterolympiade in Vancouver – wiederfinden. Plural: natürlich „Inukshuit“.
.Ach ja, Geschichten erzählen. Von Schulen ohne Fenster und von Facebook-Protesten gegen die hohen Lebensmittelpreise. Von Taxifahrern aus Ghana und dem Auto, in dem schon die Queen gesessen hat. Von Häusern auf Stelzen, die mit Tankwagen „be- und entwässert“ werden – Leitungen im Permafrostboden sind leider unmöglich. Von Iqaluits Kino und Skidoo (Motorschlitten)- Ritten über baumstammdicke Spalten im Eis. Über Schneesturm im Juni und Iglu-förmige Kirchen. Über Teenager-Selbstmorde (ein trauriger Rekord…) und Kinder in der Kapuze…. Von erzählfreudigen Kehlkopfsängerinnen auf Diät. Und von großartigen Natur-Erlebnissen mit und ohne Eis unter weitem Himmel.
An der Bucht von Iqaluit kümmert sich Kiviaq um seine Schlittenhunde. Der Über-80-Jährige war einst der erste studierte Rechtsanwalt unter den Inuit und hat viele Dinge erstritten, die später den Weg zu Nunavut ebneten. Zuletzt hat er sich das Recht erstritten, wie früher – bevor „die Weißen“ ihre Regeln auch dem hohen Norden überstülpten – statt Vor- und Nachnamen nur einen einzigen Namen zu tragen. Mehr brauchte ein Inuk früher nicht.
Und immer wieder Künstler! Statistisch soll es nirgends so viele Künstler pro Kopf geben wie in Nunavut. Oft schnitzen sie draußen vor dem Häuschen am Speckstein, mit Feilen oder Elektrowerkzeug, obwohl es heftig kalt ist. Zum Beispiel in Cape Dorset oder Pangnirtung, wo besonders viele Kreative wohnen. Immerhin ist die Kunst ein Weg, hier oben Geld zu verdienen – vor den Zeiten der Digital-Globalisierung gab es ja nicht viel, nachdem der Staat das Nomadenvolk in den 1960ern sesshaft gemacht hatte. Immerhin schickte er Lehrer in den Norden, die die traditionelle manuelle Geschicklichkeit in neue Bahnen lenkten: die Natur in Speckstein wiedergeben, die alten Mythen in graphischen Steindrucken erzählen oder auch in kunstvoll fein genähten Collagen-Decken und Wandbehänge – aus Filz oder auch mehrere Fellsorten… Eigene Kooperativen sorgen für faire Bezahlung und dafür, dass die Inuitkunst bis heute ohne Zwischenhändler nach Kanadas Süden gelangt.
Auf jeden Fall gibt es viel zu erkunden im hohen Norden!
Nunavut: Herzlichen Glückwunsch!!!
Wer es selbst erkunden will, hier meine Tipps zu Aktivität und Unterkunft:
- Rundum-Informationen zur Region: Kanada-Tourismus & Nunavut-Tourism
- Abenteuer rund um die Hauptstadt mit Louis-Philip: Inukpak Outfitting
- Übernachten mit Blick über Iqaluit und dem einzigen Kino im Ort: Frobisher Inn
- Aktion in Cape Dorset mit Kristiina: Huit Huit Tours
- Schicke und einzige Unterkunft in Cape Dorset: Dorset Suites
Nachtrag: Danke für den Kommentar zum Stoppschild, wieder was gelernt:Die roten Achtecke in Nunavut können verschieden beschriftet sein – denn Inuktitut hat etwa 6 verschiedene Texte für „Stopp“.
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Ach Dörte, ich liebe Deine Nunavut-Geschichten. Bitte, bitte mehr davon!… „Stopp“ heißt dann also laut Deinem Alphabet-Link: Nu-qi-ka-ri-ta ? Richtig?
Fast ! Da musste ich auch noch mal nachgucken. Aber die kleinen hochgestellten Zeichen sind „linguistische Finalzeichen“, ohne Vokale…
Also: „Nuqqarit“ (guckstu http://en.wikipedia.org/wiki/Inuktitut_syllabics).
Und das ist nicht das einzige „Stop“ auf Inuktitut, siehe im Nachtrag…
Tolle Fotos, tolle Eindrücke…
Toller Bericht – da möchte auch mal hin! Vielen Dank!