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Stadtabenteuer Berlin: Die Hauptstadt erleben, nicht besichtigen

Wenn ich eine Stadt besuche, möchte ich sie wie die Einheimischen erleben. Mit den „Stadtabenteuern“ ist genau dafür eine neue Reihe an den Start gegangen. Ein Test in Berlin. Und ein Interview mit dem Herausgeber Matthias Kröner.Die Top Ten der Sehenswürdigkeiten in einer Stadt abreißen, am besten noch im Sightseeing-Bus hockend? Lange schon out (… habe ich noch nie gemocht und gemacht). Nicht nur mir geht es so, dass ich eine Stadt erleben will, nicht besichtigen. Da sein will, an Orten, wo die Einheimischen auch gern sind, statt in der Schlange am touristischen Must-See zu stehen. Auch mal gern einen Nachmittag an einem schönen Ort, im netten Café einfach vertrödele.

Im Oktober stand mal wieder Berlin auf dem Programm, und das mit der ganzen Familie (Berlin geht ja immer, man hat trotz zahlreicher Besuche noch immer erst einen Bruchteil der Stadt gesehen und, auch nicht unwichtig, wir sind in nur zweieinhalb Stunden mit der Bahn da). Wenige Tage vorher waren die ersten Bände der neuen „Stadtabenteuer“ im Michael Müller Verlag herausgekommen, grundsätzlich ja immer eine gute Adresse, wenn man gut recherchierte Reiseführer schätzt. Passenderweise war auch ein Berlin-Band darunter.

Berlin anders erleben – die Vorfreude

Wenn ich einen Reiseführer habe, schaue ich immer schon vorher hinein, um mich inspirieren zu lassen, was zu unternehmen sich lohnt. Auch, um bei mehreren Aktivitäten unnötige Wege zu sparen, indem ich die Unternehmungen so plane, dass sie nahe beieinander liegen. Denn ich sitze nicht gern in Bus und U-Bahn. Kaum lag der schon vom Titel her ansprechend gestaltete Berlin-Reiseführer also im Briefkasten, habe ich geblättert. Tolle Ideen! Eine Kunst-Sammlung in einem alten Bunker? Kommt gleich mal ein Post it dran. Exotisches essen, halb legal? Klingt auch gut und hat obendrein den Vermerk „Günstig/Familienfreundlich“. Noch viel besser. Einen Lost Place besichtigen? Auch nicht schlecht, kommt aber nicht bei der gesamten Familie gut an („zu morbide“, findet die Tochter). Ein Kammermusikabend in Werkstattambiente wäre ja auch was… Bekommt auch ein Post it. Die Geschichten und Reportagen zu den einzelnen Aktivitäten machen jedenfalls schon im Vorfeld Freude.

Tiefer einsteigen

Als nächstes gehe ich auf die Websites der einzelnen Aktivitäten, um herauszufinden, was wann genau stattfindet. Und ob es noch Karten gibt. Zu jeder gibt es eine aktuelle URL, sehr gut. Doch leider folgt sogleich die erste Enttäuschung: Die Führungen im Bunker sind Monate vorher ausgebucht, also nichts für Kurzentschlossene (oder auch Semi-Kurzentschlossene). In der Klavier-Werkstatt gibt es hingegen an einem Abend nicht nur ein Konzert, sondern auch noch Karten. Der Nachwuchs ist allerdings beim Stichwort Mozart wenig euphorisch, also verwerfen wir den Plan dann doch. Das exotische Schmausen finden hingegen alle gut, wird vorgemerkt.

… angekommen in Berlin

Um es kurz zu machen: Auch den Thai-Markt haben wir letztendlich nicht geschafft. Das lag aber allein an uns bzw. dem Wetter (dem Wetter die Schuld geben, geht ja auch immer). Leider hat es an dem Morgen nämlich aus Kübeln geschüttet, so dass uns Rumstehen und Essen im Freien wenig verlockend erschien und wir lieber spontan das Anne Frank Zentrum in den Hackeschen Märkten besucht haben – sehr sehenswert übrigens. Und im kleinen Museum der Stille (statt Bunker) haben wir dann auch noch überraschende Kunst entdeckt. Sich treiben lassen ist ja meist auch eine gute Idee.

Der Rest war dann aber geplant: Das Jüdische Museum stand seit langem auf unserer Liste und der Besuch dort war wenige Tage vor dem scheußlichen faschistischen Attentat in Halle ebenso bedrückend wie eindrücklich. Zurück ging es dann zu Fuß durch den ehemaligen Osten der Stadt, über den Gendarmenmarkt und den Tränenpalast, dem früheren Grenzübergang an der Friedrichstraße.

Mein Fazit: Aufgehoben ist nicht aufgeschoben – bestimmt steht die eine oder andere Aktivität aus dem Stadtabenteuer beim nächsten Berlin-Trip wieder auf dem Zettel. Nur die sehr lange im Voraus buchbaren Abenteuer wie den Kunst-Bunker finde ich etwas schwierig, das geht nur, wenn man genauso lange im Voraus weiß, dass man in einer Stadt sein wird – der Fall trifft bei mir fast nie ein. Aber bestimmt bei anderen.

Die Stadtabenteuer sind auf jeden Fall eine Bereicherung im Reiseführer-Regal. Für jede*n finden sich schöne Aktivitäten jenseits des Mainstreams, und nicht zuletzt macht allein das Blättern und Lesen in den Geschichten dazu im angenehm zurückhaltend illustrierten Buch schon großen Spaß. Der Hamburg-Band der Reihe liegt hier jedenfalls auch schon einsatzbereit.

(c) Matthias Kröner … und weil mich interessiert hat, wie man auf die Idee zu einer neuen Reiseführer-Reihe kommt, habe ich Herausgeber und Autor Matthias Kröner einfach selbst gefragt:

Was unterscheidet die Stadtabenteuer von bisherigen/klassischen Reiseführern?

Mehr oder weniger alles 😉 Wir haben das klassische Reisebuchkonzept umgedreht. Nicht die Sehenswürdigkeiten, die ja manchmal sehr überlaufen sind, sondern Erlebnisse, die man in Weltstädten – und zwar nur dort – unternehmen kann, stehen im Zentrum der Bücher. Dabei haben wir vor allem Erlebnisse ausgesucht, die kostenlos, günstig oder familienfreundlich sind. In Städten gibt man eh genug Geld aus…

Für wen ist die Reihe gemacht? Wie nutzt man sie am besten?

Im Prinzip alle, die zwar die wichtigsten Sehenswürdigkeiten einmal ansteuern, aber tiefer eintauchen wollen in den Kosmos Weltstadt. Am Ende jedes Stadtteil-Kapitels stehen die Basics. Doch die Highlights sind die Stadtabenteuer, die jeder selbst erleben kann. Sie werden von unseren Reisejournalist*innen in Ich-Form präsentiert, subjektiv, sehr persönlich und unterhaltsam. Ich garantiere: Wer sie liest, will genau das unternehmen.

Wie ist die Idee zu der neuen Reihe gereift?

Die Idee schwebt mir schon lange im Kopf herum. Ich habe ja einen Lübeck- und einen Hamburg-Reiseführer geschrieben. Irgendwann dachte ich mir: Es gibt nicht nur besondere Wege und besondere Orte, sondern eben auch herausragende Erlebnisse, die Hamburg ausmachen. Ich denke da an Schaufensterkonzerte in einem Plattenladen, an eine Führung, die zu einem geheimen ABC-Bunker direkt unter dem Hauptbahnhof führt – und wo liegt eigentlich der „Mount Everest“ Hamburgs? Solche Dinge, die oft gar nicht so abseits sind, aber auf die man nicht gleich kommt, haben mich total interessiert. Doch in den klassischen Büchern war kein Platz dafür. Als meine Frau, eine Grafikerin, und ich dann auf unserer Hochzeitsreise in Amsterdam unterwegs waren und wir wieder so ein Buch vermisst haben, dachten wir, dass man da was tun müsse…

Warum war es in euren Augen Zeit für eine neue Art von Reiseführer?

Gute Frage! Wir denken, wir leben in einer Zeit, in der viele mit Smartphones reisen. Doch die besonderen Erlebnisse sind geräteunabhängig und letztlich das, was hängenbleibt. Man kann sie nicht auf gut Glück googeln, weil sie nicht so bekannt sind. Deshalb bieten wir eine völlig analoge Anregung auf gutem altem Papier.

Was kann ein klassischer gedruckter Reiseführer besser, was Online-Informationen nicht können?

Völlig klar. Ein klassischer Reiseführer, zumindest ein Michael-Müller-Reiseführer, ist das, was das Internet nicht ist: unabhängig. Wir haben wirklich alles angesehen und erlebt und: verglichen. Wir sind nicht käuflich. Was in den Büchern steht, steht da drin, weil es qualitativ hochwertig ist. Wenn ich dagegen an die vielen, vielen Fake-Besprechungen online denke, ob bei Google, Tripadvisor oder wo auch immer …

Werden wir in zehn, zwanzig Jahren noch mit einem gedruckten Buch durch Städte und Regionen laufen?

Definitely maybe. Ich weiß es wirklich nicht. Da müsste man einen Zukunftsforscher fragen. Was ich weiß: dass man immer gute Texte und ein Wissen von Reiseorten brauchen wird. Ob diese Texte gesprochen in unsere Ohren fliegen oder als augmented reality vor unseren Augen aufklappen, vermag ich nicht zu prognostizieren. Wer weiß, vielleicht setzt sich am Ende gar das sehr praktische Buch durch, das nicht gestohlen wird und nicht einmal einen Akku braucht. Selbst dann nicht, wenn man es während der ganzen Reise benutzt…

Matthias Kröner, geboren 1977 in Nürnberg, lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist, Redakteur und Lyriker in der Nähe von Lübeck. Er erhielt neun Auszeichnungen für Prosa, Lyrik und Essayistik. Diverse Veröffentlichungen, zuletzt Dahamm und Anderswo (ars vivendi, 2016). Seine zwei Reiseführer Lübeck MM-City (2018, Michael Müller) und Hamburg MM-City (2019, Michael Müller) erhielten jeweils einen ITB BuchAward. 2019 gab es ein Literaturstipendium der Kulturstiftung des Landes Schleswig-Holstein.

Wenn ihr die Berlin-Stadtabenteuer von Michael Bussmann und Gabriele Tröger haben wollt (oder lieber die für Amsterdam, Lissabon oder eine andere europäische Metropole – acht Stück gibt es derzeit), kauft sie bitte in der Buchhandlung eures Vertrauens in eurer Stadt (und nicht beim Online-Branchenriesen). Oder, wenn es online sein soll, über die Autorenwelt. Jeder Band kostet 14,90 €.

Die Stadtabenteuer Berlin hat mir der Michael Müller Verlag als kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

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