Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, Volkstrauertag – der November gilt nicht nur in unserer Kultur als Monat der Toten. Aber ein Busticket für einen Toten kaufen und anschließend daneben Platz nehmen? So etwas gibt es wohl nur in Galicien. Der Volksglaube strotzt nur so vor Geistergeschichten.
In der dunklen Jahreszeit brandet der Atlantik gegen die wilden Klippen der Costa da Morte, der Küste des Todes. Das tosende Wasser hat im Laufe der Jahrtausende Felsnasen aus dem Wasser herausgefräst. Für die Römer war diese Region „Finis Terrae“, das „Ende der Welt“. Im Norden grasen noch wilde Pferde auf den windumtosten Hochebenen. Zum Meer hin fällt die Serra da Capelada in atemberaubenden Steilhängen ins Meer. An den tückischen Felsnasen im Meer haben so viele Seefahrer ihr Ende gefunden, dass es hier sogar englische Friedhöfe gibt.
Und natürlich gehören zu dieser rauen Landschaft auch düstere Legenden: Mit einem Raunen in der Stimme erzählt man sich die alten Geschichten und Sagen. Sie handeln von Meigas, den galicischen Hexen, von Kobolden, von den rastlosen Seelen der Toten und von grausigen Prozessionen, die nachts um die Häuser ziehen.
Tote auf Reisen
„Ao Santo André de Teixido vai de morto, o que no foi de vivo.“
„Es kommt als Toter nach Santo André de Teixido wieder, wer nicht zu Lebzeiten dort gewesen ist“, diesen Spruch kennt jeder hier. Eine andere Legende sagt, dass derjenige, der nicht zu als Lebender hier war, nach dem Tod als Insekt verkriechen muss. Und so ist Santo André de Teixido das am zweithäufigsten besuchte Pilgerziel Galiciens – gleich nach Santiago de Compostela. Offiziell nur ein christlicher Wallfahrtsort. Aber die Atmosphäre ist vollkommen anders als in Santiago.
Santo André de Teixido liegt eingebettet inmitten von schroffen Steilhängen und bietet einen weiten Blick auf den Atlantik, ein Ort mit Atmosphäre. Angeblich lässt sich der Ursprung als Pilger- und Kultstätte bis in die Eisenzeit zurückverfolgen.
Hier schmücken nicht nur Kreuze und christliche Symbole die Auslagen der Geschäfte, sondern auch Liebeskräuter und Talismane mit keltischen Symbolen. Die Menschen pilgern eigentlich hierher, um den Heiligen Andreas (Santo André) zu ehren. Der zweite Teil des Ortsnamens „Teixido“ leitet sich aber vom Wort Teixo (Eibe) ab. Bei den Kelten ein heiliger Baum. Dieser Name gilt als weiterer Hinweis darauf, dass die Wurzeln dieses Pilgerortes bis weit in die vorchristliche Zeit zurückreichen. Ein wahrer Katholik glaubt natürlich nicht daran, dass er als Toter bzw. als wiedergeborenes Insekt zurückkehren muss. Die meisten Galicier kommen allerdings doch lieber zu Lebzeiten mal hierher – man weiß ja nie…
Und wenn es ein Angehöriger nicht geschafft hat, dann wird eben ein Busticket für die tote Seele gelöst – damit der Verstorbene nicht als Insekt sein Leben in Santo André de Teixido fristen muss.
Der Amulettmacher
Auch das Geschäft vom Kunsthandwerker Jorge Bellón atmet die besondere Atmosphäre des Ortes. Christliche Devotionalien liegen hier friedlich vereint mit keltischen Symbolen in den Auslagen. Jorge hat sich auf die Herstellung traditioneller Amulette aus Brotteig spezialisiert, die so genannten „Sanadreses“.
Jeder Pilger bringt eines dieser Amulette mit nach Haus, sie sollen den Käufer beschützen und ihm Glück bringen: Je nach geformtem Symbol bringen die Amulette Liebe, Arbeit und Geld, schöne Reisen, Gesundheit, Frieden oder auch einen klaren Verstand. Wegen all dieser nützlichen Wirkungen, kaufen die meisten Pilger diese Amulette gleich im Achterpaket – in Galicien weiß man ja nie…
Seelenprozession im Kerzenschein
Später erzählt uns eine alte Dame noch die Geschichte von der „Santa Compaña“, der Prozession der Seelen. Jeder, wirklich jeder Galicier kennt diese grausige Legende. Die Seelen der Toten tragen ihre Leichentücher als weiße Umhänge, gehen in Zweierreihen durch die Gassen und halten Kerzen in ihren knochigen Händen. Niemand erblickt die Prozession durch Zufall – sondern weil die Toten ihn holen wollen. „Wer die Santa Compaña erblickt, der stirbt kurz darauf“, raunt die Dame und bekreuzigt sich eilig. So als sei allein schon die Erwähnung der Santa Compaña ein gefährliches Unterfangen. Und wer nachts die Straße entlanglaufe, Kerzenwachs sehe oder den Geruch von verbranntem Wachs wahrnehme – der sei wahrscheinlich gerade eben noch der Santa Compaña entgangen.
Am häufigsten wird sie in der Nacht von Allerheiligen gesichtet. So mancher Galicier verteilt in dieser Nacht auf Mauern und Kopfsteinpflaster ein wenig Kerzenwachs, um den abergläubischeren Mitbürgern einen ordentlichen Schrecken einzujagen. Aber das hält uns nicht davon ab, uns doch irgendwie von diesen Gruselgeschichten beeindrucken zu lassen. Als wir zurückkehren zum Auto, gleitet unwillkürlich der Blick zu Boden. Lieber kein Insekt zertreten. Die Geschichte mit den wiedergeborenen Toten ist zwar Unsinn. Aber in Galicien, da weiß man ja nie…