Seit 1000 Jahren wandern Schäfer im Herbst aus den Pyrenäen in die Halbwüste Richtung Süden. Die Wege der Cañadas, der Viehdriften, führen sie entlang der grandiosesten Landschaften, die Navarra zu bieten hat. Über das Gras der saftigen Hochebenen, durch die Buchen- und Pinienwälder der Pyrenäen. Mit Zwischenstopps an uralten Klöstern und steilen Schluchten geht es zum Ziel, in die Halbwüste Las Bardenas. Wie eine Mischung aus Karl May und Game of Thrones – Wandern auf den Wegen der Transhumanz.
Der Herbst klopft schon an die Tür im Tal von Roncal. Wir treffen Alba Ripolas im Mata de Haya, einem Buchenwald, der ganz am Ende langgezogen Tals liegt, im Valle de Belagua.
Nichts an Alba ist gewöhnlich. Sie ist studierte Biologin, Rastazöpfe hängen ihr über den Nacken hinab. Sie ist in einer streng katholischen Gesellschaft aufgewachsen und sagt heute: „Die Naturwissenschaft ist meine Religion.“ Nach Forschungsaufenthalten in Schottland und auf Hawaii ist sie wieder in ihre alte Heimat zurückgekehrt, das Tal von Roncal. Alba ist ein freier Geist, ungewöhnlich und doch absolut natürlich und bodenständig. Ein Leuchten tritt ihr in die Augen, sobald sie über ihre Heimat und die Natur sprechen darf. Beides vereint sie nun in ihrem Traumberuf: Sie hat sich auf Naturführungen spezialisiert.
Mitten im Wald hält sie an und bittet uns, die Augen zu schließen und ganz still zu sein. In der Ferne klingt der Ruf eines Kuckucks, ganz in der Nähe keckert eine Elster. Und dann hören wir es ganz leise, das zarte Gebimmel von Glocken aus dem Hang von gegenüber. Ähnlich wie in den Alpen haben die Tierhalter hier in den Pyrenäen ihr Vieh mit Glocken versehen, um es in den Bergen wiederzufinden. „15 Schäfer leben allein hier im Tal von Roncal“, erzählt Alba. Viele sind bereits unterwegs auf Transhumanz. So lautet der Fachbegriff für eine halbnomadische Lebensweise.
Im Sommer grasen die Schafe in den Pyrenäen, im Winter in der Halbwüste von Las Bardenas. Manche Schäfer brechen erst Mitte Oktober auf, darunter auch Fernando, Albas Freund. Irgendwie verwundert es bei einem ungewöhnlichen Freigeist wie Alba nicht, dass sie sich ausgerechnet in einen Schäfer verliebt hat. Sie nimmt uns mit auf eine der Sommerweiden hoch in den Pyrenäen, wo die Schafe sich nur noch als kleine weiße Punkte in der Landschaft abheben – und durch ihr leises Gebimmel.
Auch Fernando ist alles andere als ein gewöhnlicher Schäfer: Mehr als ein Jahrzehnt arbeitete er in seinem Bürojob in der Papierindustrie, viele Jahre davon auch in Italien. Der Junge war das Nesthäkchen in der Schäferfamilie zu Hause. Seine Mutter wollte, dass der Junge einmal etwas „Vernünftiges“ lernt, nicht das „Sklavenleben“ eines Schäfers führt.
Und dann hält er es nicht mehr aus: “Ich stand kurz vor einer Depression, weil ich dieses Leben schrecklich fand und habe irgendwann alles hingeworfen, um auch Schäfer zu werden”, erzählt er. Fernando hütet seine Schafe gerade in der Sierra de Garde. Insgesamt besitzen er und seine drei Brüder 5000 Schafe, eine autochthone Rasse aus den Pyrenäen.
Normalerweise fährt er morgens mit seinem Allrad-Fahrzeug eine Stunde auf dem rauen Feldweg den Berg hinauf, kommt zum Mittagessen wieder ins Tal und fährt dann wieder rauf. “Wenn der Bär da ist, schlafe ich auch hier oben in der Schutzhütte auf der Sierra de Garde”, erzählt er. Sein treuer Begleiter heißt Antxon und ist ein Baskischer Hütehund. Insgesamt 100 Tiere haben sie bereits an die ausgewilderten Bären verloren, die immer wieder aus den französischen Pyrenäen hierher kommen.
Und auch wenn die Geschichten über die Bären, über die finanziellen Probleme der Schäfer immer wieder kommen, ist doch auch Fernandos tiefe Ausgeglichenheit spürbar. Immer wieder scherzt er und ein breites Grinsen überzieht dann sein Gesicht, gräbt die Lachfalten noch tiefer in die sonnengebräunte Haut. Er wirkt nicht wie jemand, der ein “Sklavenleben” führt, im Gegenteil, eher wie ein absolut freier Mensch.
Die grandiose Landschaft hier oben macht auch uns freier und glücklicher. Wir wandern gemeinsam mit Alba weiter auf den Spuren der Schäfer. Die Pyrenäen wechseln sich zwischen schroffen Felslandschaften, lieblichen, sattgrünen Wiesen, dazwischen Wälder und gurgelnde Bäche mit kristallklarem Wasser.
Wenn die Schäfer dann irgendwann am Kloster von Leyre ankommen, haben sie schon fast die Hälfte des Weges hinter sich. Im Jahr 882 verlieh der König von Navarra den Einwohnern des Tals von Roncal das Recht, ihre Schafherden im Winter auf die Weiden der Bardenas Reales zu bringen. Und schon damals gab es hier das Kloster von Leyre.
Und wenn man abends unter dem romanischen Gewölbe der Kirche den gregorianischen Gesängen der Mönche lauscht, fühlt man sich tatsächlich ins Mittelalter zurückversetzt, als die Schäfer hier um Gottes Beistand baten.
Foz de Lumbier
Weiter in Richtung Südwesten ziehen die Schäfer, vorbei an noch einer Filmkulissen-reifen Landschaft, der „Foz de Lumbier“, einer spektakulären Schlucht, die der Fluss Irati hier in die Felsen gefräst hat.
Gänsegeier kreisen über die Schlucht, nutzen die Thermik der steilen Felswände. Sie sind ein ständig wiederkehrendes Thema auf unserer Reise. Auch in den Pyrenäen sind sie uns schon begegnet, immer auf der Suche nach verendeten Schafen. „Wenn morgens nur zwei kreisen, ist das nichts Besonderes“, hatte uns Fernando dort oben erklärt. „Aber wenn ich ankomme und da oben kreisen mehr, weiß ich: Es gibt ein Problem.“ Bis in die Bardenas Reales werden die Geier ein Thema bleiben.
Alba zeigt uns grandiose Bilder, die sie mit ihrem Handy gemacht hat. Unfassbar schnell sind die Tiere zur Stelle, wenn eine Kuh oder ein Schaf verendet ist. „Bis zu 2000 Geier kommen dann dort zusammen, wo das tote Tier liegt, sie kämpfen, reißen sich sogar gegenseitig Federn aus, es spritzt Blut.“ Nur etwa 16 Tiere kommen in diesem Pulk tatsächlich zum Fressen, die anderen gehen leer aus.
El Paso
Wenn die Schäfer „El Paso“ erreicht haben, den Durchgang zum Biosphärenreservat „Las Bardenas Reales“, sind sie schon fünf Tage unterwegs. Als erstes suchen daher viele Schafe die Wasserstelle auf.
Seit kurzem findet hier, in der Nähe von Carcastillo, ein Fest zur Transhumanz statt, um dieses alte Kulturgut zu ehren und zu erhalten. Wir sind dabei, als frühmorgens rund um das Monument des Schäfers eine Herde nach der anderen eintrifft. An einer kleiner Bude verkaufen die Organisatoren „Migas“, die typische Speise der Schäfer aus altem Brot, wobei die Krumen gut gewürzt in Schaffett frittiert werden (sehr lecker!).
Und dann treten die Schäfer mit ihren Herden über in die weiten Ebenen der Bardenas Reales. Die Halbwüste erlebt ihre wenigen Niederschläge vor allem im Winter und bietet nur in dieser Zeit auch genug Futter für die Schafherden. Die Landschaft haut mich ebenfalls mal wieder von den Socken. Wir erfahren, dass hier schon viele Werbefilme, Teile von Game of Thrones und James Bond hier gedreht wurden. Kein Wunder! Bilder sagen mehr als Worte…
Diese Recherche wurde unterstützt vom Spanischen Fremdenverkehrsamt Frankfurt und dem „Königreich Navarra“. Vielen Dank dafür!
Ein toller Bericht begleitet von wunderschönen Fotos.
Ganz lieben Dank, bei diesen Landschaften ist das Fotografieren auch eine wahre Freude 😊
So wunderschöne Landschafts-Kontraste! Und die Schafe sind zu jeder Jahreszeit unterwegs, stehen nie im Stall, richtig? Was für ein Leben (außer wenn der Bär kommt…)!
Ja, die sind immer draußen 🙂 Und wenn der Bär kommt, ist das wohl ziemlich gruselig, viele trächtige Tiere erleiden allein durch die Aufregung Fehlgeburten
Hallo Iris,
meine Mutter stammte aus dem Grenzgebiet Rioja/Navarra. Die Bilder wecken schöne Erinnerungen! Dafür herzlichen Dank!
Hallo Bernd, das hört sich toll an. Hoffentlich schaffst du es manchmal, die alte Heimat deiner Mutter zu besuchen!
Herzliche Grüße
Iris
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Liebe Iris, oh, was für eine wunderschöne Gegend! Ich liebe die Pyrenäen, hatte aber von der Halbwüste keine Ahnung. Dort möchte ich jetzt unbedingt mal hin. Vielen Dank fürs Zeigen!
Liebe Grüße
Corinna