nah dran
Kommentare 4

Norwegen: Bei den Sámi und ihren Rentieren


Leben im ewigen Zyklus des Rentierzugs: Ein Besuch in der norwegischen Finnmark bei den Sámi.Wenn das Lagerfeuer im Lavvo (auch Lavvu oder auf Nord-Samisch Goahti genannt) brennt, dem traditionellen runden Zelt der Sámi, scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Wobei ja die Zeit im Bewusstsein der Sámi, des einzigen anerkannten europäischen indigenen Volkes, nicht vergeht. Die Zeit kommt.

Jedenfalls kehrt jetzt eine tiefe Ruhe ein im dämmrigen, rauchigen Zelt. Bis heute sitzen die Sámi rund ums Lagerfeuer im runden Lavvo, mindestens während der Zeit des Rentierzugs im Frühling und im Herbst. Dann begleiten die Herdenbesitzer in der norwegischen Finnmark, die zu Sápmi, dem Siedlungsgebiet der Samen gehört, ihre Tiere von der Winter- zur Sommerweide. Und im Herbst retour, von der Küste zurück in die Berge. Während dieser intensiven Wochen unterwegs schlafen sie wenig und wärmen sich sich in Hütten, aber eben auch noch immer in den traditionellen Zelten.

Sokki Adventure in Kautokeino

Mina und ihr Vater Aslak Sokki

Aslak Sokki grinst breit hinter seiner Pilotensonnenbrille. Der Besitzer einer Rentierherde und der Eventfirma Sokki Adventure hat eine Überraschung für uns: „Ich habe ein Rentier für euch geholt.“ Noch sind seine Tiere, jetzt Anfang September, auf der Sommerweide, und die liegt rund hundert Kilometer von Kautokeino entfernt. Also ist er losgefahren, hat ein stattliches Rentier mit dem Lasso gefangen und im Transporter hergebracht. Später wird er das männliche Tier zurück zur Herde bringen.

Rentiere gehören zwar schon zu Aslak Sokkis touristischem Angebot, aber normalerweise nicht im Herbst. Im Winter hingegen bietet Sokki Adventure Schlittenfahrten mit Rentieren an, ein eindrückliches Erlebnis in der dann tief verschneiten Landschaft der relativ flachen Finnmark. Die hat sich genau jetzt, nicht minder beeindruckend, in die allerschönsten Herbstfarben geworfen. Das Rentier allerdings guckt ein wenig verstört, wahrscheinlich versteht es nicht, warum es hier sein muss. Irgendwie nachvollziehbar, zudem auch gerade Brunft ist und es eigentlich Wichtigeres zu tun hat.

Bevor Aslak und seine Tochter Mina Ariane uns ins Lavvo bitten, üben wir selbst eine Runde Lassowerfen. Seine Söhne, der 13-jährige Esaias Matheo und der 4-jährige Mikkel Mathis, helfen auch tatkräftig mit. Wobei, eigentlich übt der Vierjährige vor allem, kunstvoll wild Fahrrad zu fahren. Wir hingegen geben uns Mühe, das Lasso in die richtige Richtung zu schmeißen (was selbst Mikkel garantiert schon formvollendeter kann als wir). Es ist aber auch gar nicht so einfach, das Seil überhaupt erstmal fachgerecht zu einer Schlaufe zu wickeln. Danach muss es mit langem Arm weggeschleudert werden, und tatsächlich treffen wir ein paarmal die als Ziel aufgestellten Rentiergeweihe. Ein besonderer Glückstreffer fängt sogar die dahinter stehende Mina ein. Unbeabsichtigt natürlich.

Lassowerfen mit Luft nach oben

Benimm-Regeln im Lavvo

Und dann betreten wir, fast ein wenig andächtig, das Lavvo. In der Mitte des großen Zeltes lodert ein Feuer, es reicht nach Qualm, das Licht ist gedämpft. Aslak erklärt, dass im Lavvo grundsätzlich die Küchenecke im hinteren Teil, dem Eingang genau gegenüber liegt. Sie ist den Samen heilig und darf nur von der Familie betreten werden. Gäste bleiben respektvoll in der vorderen Hälfte, bis wie weiter hineingebeten werden. Vorne in der Küche sitzt der Chef, daneben die Frau (oder auch andersrum, wenn die Frau die Chefin ist), die hintere Ecke ist für die Familie reserviert. Am Eingang wärmen sich die Angestellten und in kalten Wintern auch die Hunde der Rentierzüchter auf. Es gibt auf jeden Fall so etwas wie eine unsichtbare Linie, die nicht übertreten wird. Die private Zone ist im Zelt einfach eine Frage des Respekts.

Aslak und Mina teilen jetzt Bidos aus, den traditionellen samischen Rentiereintopf mit Möhren und Kartoffeln, der bei keiner Feier fehlt (aber auch im Fast-Food-Flughafenrestaurant von Alta zu bekommen ist), und erzählt dabei, dass die Sámi ihre Rene mit ihrem Messer am Ohr markieren. Jede Herde hat ihre eigene Markierung. Später werden die gesammelten Ohrschnipsel gezählt, um einen Überblick über die Herdengröße zu bekommen. Diese Art der Markierung soll, geht es nach der norwegischen Regierung, zugunsten einer Plastikmarke verboten werden, aber die Samen wehren sich dagegen und berufen sich auf die Tradition.

Bald werden Flechten und Moose von Schnee bedeckt sein

Ihre Tiere ernähren sich vegetarisch, die fressen vor allem Gras, (Rentier-)Flechten, andere Grünpflanzen und Pilze. Rene sind tatsächlich ziemlich verrückt nach Pilzen – wenn sie welche riechen, sind sie nicht mehr zu halten. Beobachtungen zeigten, dass sie sich, wenn möglich, die dünnen und zarten Pflanzenteile aussuchen, weil die am wenigsten Pflanzenfasern enthalten und damit bekömmlicher sind.

Von der Sommer- zur Winterweide (und zurück)

Traditionelle Schuhe aus Rentierfell

Rund 3000 Samen sind in Norwegen in der Renzierzucht tätig, davon 2200 in der Finnmark. Um die 250 Kilometer zieht Aslak mit seiner Herde von der Sommer- zur Winterweide (und später wieder zurück). Unterwegs nutzen er, seine Kollegen und andere Hirten, die einen ähnlichen Weg nehmen, fest stehende Lavvos auch gemeinschaftlich oder nacheinander. Er holt er einen unscheinbaren Stock hervor. Der dient dazu, sich gegenseitig zu informieren. In das Holz ritzt man, wenn man das Lavvo erreicht und genutzt hat, ein, dass man da war. Der „Kommunikationsstab“ bleibt immer im Zelt. Aslak kniet sich hin – Samen knieen immer, sagt er, man gewöhne sich daran, wenn man es von klein auf gewöhnt sei – und zeigt traditionelle Winterschuhe aus Rentierfell. Eine Schicht Wolle und trockenes Gras dienen innen als Isolierung, beide Naturmaterialien sind gut gegen Feuchtigkeit und Kälte. Diese Schuhe sind tatsächlich auch heute noch im Einsatz, viele Sámi ziehen sie modernen Winterstiefen mit High-Tech-Materialien vor. Sie wärmen einfach besser, sagt Aslak.

Das Rentier-Jahr im Rhythmus der Jahreszeiten

Im Dezember werden 90 Prozent der Kälber des Jahres geschlachtet, erfahren wir. Die Quote hat die norwegische Regierung festgesetzt. Dabei nutz(t)den die Sámi alles von Tier: das Fleisch als Nahrung, Felle und Haut bzw. Leder für Kleidung, Schuhe oder Fäustlinge und das Geweih für Werkzeug und Kunstwerke. Das Rentier-Jahr folgt einem festen Rhythmus: Im Frühling kommen die Kälber zur Welt, werden im Sommer markiert und im Herbst an Schlachthäuser verkauft. Im Spätherbst folgt die Sammlung der Tiere und die Aufteilung in Winterweidegruppen. Den Winter verbringen die Herden auf den Winterweiden, im späten Winter wandern sie zu den Sommerweiden, die hier oben in Norwegen oft an der Küste liegen. Die Hirten tragen eine extra Sommerweiden-Tracht und es gibt einen speziellen Rentier-Sommerweiden-Entlassungs-Joik. Joik heißt der traditionelle erzählende Gesang der Sámi. Und später im Jahr geht alles wieder von vorn los. Lebenskreise…

Sokki Adventure in Kautokeino

Lernen in der Natur

Zum Rentierzug bekommen die Kinder von der Schule frei, rund zwei Wochen bis zu einem Monat kann er dauern. Denn nur hier können die zukünftigen Rentierzüchter alles über die Rentierherden und den Rentierzug von ihren Eltern und anderen erfahrenen Hirten lernen. Auch wenn inzwischen Rentierhaltung auch als Uni-Fach am samischen Wissenschaftszentrum Diehtosiida wenige Kilometer entfernt in Kautokeino unterrichtet wird – erst die Erfahrung macht einen gute Rentierhalter aus. Das bestätigt auch Jon Mikkel Eira, ein junger Rentierhirte. Er kann zum Beispiel am Verhalten der halb zahmen Hirsche, bei denen Männchen und Weibchen ein Geweih tragen und dies jährlich abwerfen, lesen, wann die Rentierwanderung beginnt. Ein wichtiges Zeichen ist etwa, ob die Tiere auf der rechten oder linken Seite liegen. Jon Mikkel spürt, wenn die Tiere unruhig werden und sich auf den langen Weg vorbereiten. „Denn den Rentierzug bestimmen nicht wir, die Tiere entscheiden ganz allein, wann es los und wo es entlang geht“, sagt er.

Modernes Nomadenleben

Jon Mikkel Eira erzählt vom Leben als Rentierzüchter

„Alle Rentiere hier oben sind halb wild und gehören den Samen. Denn nur Sámi dürfen Rentiere besitzen. Wilde Rene gibt es in Norwegen nur noch in der Hardangervidda“, erklärt Jon Mikkel Eira weiter. Man braucht eine Lizenz, um Rentierhirte zu werden. Manche Familien haben zwei oder drei, und dennoch wollen mehr Sámi Rentierhirten werden, als es Lizenzen gibt. Dabei ist das Leben trotz taditioneller Nutzung von Lavvos, Trachten und Schuhen heute vor allem modern. Die Hirten haben feste Häuser im Sommer und Winter, sie benutzen Schneescooter. Und um jederzeit zu wissen, wo seine Rene sind, setzt Jon nicht nur Drohnen, sondern auch GPS-Tracker an 50 seiner Tiere ein.

Klimawandel macht den Tieren zu schaffen

Und der Klimawandel? Spürt man ihn hier oben auch schon? Ja, sagt Jon Mikkel, das veränderte Klima mache ihm und vor allem den Tieren spürbar zu schaffen. Besonders auf der Winterweide ist er spürbar. So wie im letzten Jahr, da hatten sie Regen im Januar und Februar, weil es so warm war wie sonst erst Monate später. Und dann kam die Kälte mit Macht zurück. Die Schneeoberfläche verharschte so, dass die Tiere Schwierigkeiten hatten, sie aufzukratzen und an die Flechten zu kommen. Im April war es dann plötzlich schon wieder so warm, dass sie die Tiere vor dem eigentlichen Wandertrieb mit dem Trailer zu neuem Weideland bringen mussten.

Und diesen Winter kann es wieder ganz anders sein. Denn „A year isn´t a next year´s brother“, lautet ein samisches Sprichwort, sagt der Rentierhirte. Man kann nichts vergleichen und nicht erwarten, dass alles wieder so ist wie vorher. Alles ändert sich. Aber vieles kommt auch wieder, wie in einem endlosen Kreis.

Herbst in der Finnmark

Infos:

Rentierschlittenfahrten im Winter, Lassowerfen im Sommer bietet Sokki Adventure in Kautokeino an.

Zu Sápmi, dem Siedlungsgebiet und Kulturraum des Volkes der Samen, gehören die nördlichen Teile Norwegens, Schwedens, Finnlands und der russischen Kola-Halbinsel. Es gibt mehrere samische Sprachen, die wichtigsten sind Nordsamisch, Lulesamisch und Südsamisch. Die samische Flagge trägt die Farben Rot für die Sonne und Blau für den Mond, außerdem Gelb und Grün. Zentral steht ein Kreis.

Mehr herbstliche Impressionen aus der Finnmark gibt´s hier.

Henry Barchet berichtet in seinem Podcast Audiotravels ebenfalls von den Samen, hört mal rein…

Auf die Reise in die Finnmark zu den Samen haben mich Visit Norway und Northern Norway eingeladen.

 

Kategorie: nah dran

von

Seit ich denken kann, zieht es mich in die Natur. Und in den Norden. Das spezielle Licht im Sommer, der Duft der Wälder und die Weite des Fjälls... Als Journalistin und Buchautorin bin ich außerdem gern in Europa und in Niedersachsen unterwegs.

4 Kommentare

Kommentar verfassen