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Göhrde: Mit dem Wolfsberater auf Tour


Mit dem Wolfsberater unterwegs: Kenny Kenner nimmt uns mit auf die Spur des Wolfsrudels in der Göhrde.

Eine Reise in Niedersachsens äußersten Nordosten, ins Wendland, ist ein wenig wie eine Zeitreise. Fern großer Städte, stellen sich hier im Ländlichen schon bald ein Gefühl der Entschleunigung und eine angenehme Gelassenheit ein. Irgendwie ist es ein wenig wie früher, als es noch keine Handys gab – ohne das romantisch verklären zu wollen. Aber tatsächlich ist selbst der Mobilfunk-Empfang eingeschränkt hier im Wald, im tiefen Grün der Göhrde… Eine seltsam aus der Zeit gefallene Landschaft mit Dörfern, in denen sich kaum etwas verändert zu haben scheint über die Jahrzehnte. Traumschönes Fachwerk, viel alter Backstein – und, wie angenehm, so gar keine Neubaugebiete mit ihren architektonisch nicht immer vorteilhaften Selbstverwirklichungen. Viele der typischen Zwei- und Dreiständerhäuser Häuser haben hier noch ihre „Grote Dör“, die große, runde Eingangstür mit Inschrift darüber.

Die Grote Dör und das gelbe X

Das gelbe X

Hinterwäldlerisch ist man hier aber keineswegs. Verändert hat sich in den letzten Jahrzehnten jede Menge, besonders in den Köpfen. Früher bäuerliches, konservatives CDU-Land, ist nun überall das markante gelbe X zu sehen, das Symbol des wendländischen Widerstands gegen Atommülltransporte und das Zwischenlager für Atommüll in Gorleben. Es steht an den Straßen, in Vorgärten, hinter Wohnzimmerscheiben. Der Kampf gegen die bundesdeutsche Atompolitik hat das Wendland verändert, hat kreative Querdenker aus der ganzen Republik angelockt. Bis heute zeigt sich das zum Beispiel bei der Kulturellen Landpartie, die gerade wieder läuft.

Trotz des Atommülls, der geradezu bizarr in einer großen Halle mitten im Nirgendwo im Wald lagert: Überraschend idyllisch ist diese Ecke Niedersachsens. Und sehr, sehr grün. Immer wieder ist unterwegs der markante Ruf des Kuckucks zu hören. Entdecken lässt sich die Region am besten mit dem Rad, den Kanu oder zu Fuß. Ich war mit dem Wolfsberater Kenny Kenner in der Göhrde.

Die Göhrde, Norddeutschlands größtes Waldgebiet

Totholz darf wieder liegenbleiben im Forst/Wald

Bäume, so weit das Auge reicht. Und nach der nächsten Kuppe das gleiche Bild. „Hier kann man sich wirklich noch verlaufen“, erzählt der Taxifahrer, der uns vom Hundertwasser-Bahnhof Uelzen in die Göhrde bringt. Der 18 000 Hektar große Staatsforst, in dem einst die Kaiser jagten und der an vielen Stellen heute nicht mehr viel von einem aufgeräumten Forst hat, sondern in dem der natürlichen Sukzession Raum gegeben wird, war 1989 eine Zeitlang bundesweit in den Schlagzeilen. Damals erschütterten zwei mysteriöse Doppelmorde die Nation. Noch heute erzählt man sich vom legendären Göhrdemörder, der je nach Version mal Gärtner, mal Bäcker war. Der Mörder ist auf jeden Fall (zum Glück!) verschwunden. Aber ein früherer Bewohner ist zurück: der Wolf. Mit dem Wolfsberater Kenny Kenner sind wir heute zu einer Wolfswanderung verabredet.

Wolfsberater Kenny Kenner

„Ich war schon immer naturbegeistert und vom Wolf fasziniert“, erzählt Kenny Kenner. Er lebt in der Göhrde und ist einer der Besitzer des Bio-Hotels Kenners Landlust in Dübbekold, einem Ortsteil von Göhrde (einem Ort im gleichnamigen Wald). So engagiert er sich seit einigen Jahren als Wolfsberater. Seit der Wolf zurück ist in Deutschland – in Niedersachsen sind die Tiere seit 2008 nachgewiesen –, arbeiten hier Wolfsberater. Sie informieren die Bevölkerung, Tierhalter wie Schäfer oder Besitzer von anderen Weidetieren und die Jäger über das neue Zusammenleben mit dem Wildtier. In den meisten Bundesländern tun sie das übrigens ehrenamtlich.

Alva, kein Wolf…

Wir starten am Großen Stern, einer Wegekreuzung in der Göhrde. Immer dabei: Kennys Hündin Alva, 13 Jahre alt, die mit ihrem zotteligen, grauen Fell selbst ein wenig wie ein Wolf aussieht. Kenny, mit roter Jacke und braunem Hut, nimmt regelmäßig Gäste mit in den Wald, um ihnen von den Wölfen und ihrem Leben zu erzählen und manchmal auch Spuren der scheuen Tiere zu zeigen. Das Göhrder Rudel – im Wendland sind derzeit insgesamt drei nachgewiesen, mit jeweils fünf bis zehn Tieren – hat ein Terretorium von 300 Quadratkilometern, erfahren wir. Das ist viel! Da muss man schon genau wissen, worauf zu achten ist, um Wolfsspuren zu finden. Kenny weiß das natürlich, und so werden wir schnell fündig: Auf dem Fortsweg liegt eine, hm, irgendwie flauschige, graue Masse. Einmal gelernt, wonach wir schauen müssen, werden wir in den kommenden Stunden noch so manchen Haufen Wolfshinterlassenschaft entdecken.

Alte Wolfslosung und Mistkäfer at work

Wolfslosung in verschiedenen Stadien der Zersetzung

Es entbehrt dabei einer gewissen Komik nicht, dass alle Teilnehmer der Wolfswanderung jedes neue Häufchen begeistert fotografieren. Ein Haufen ist noch ganz frisch, den dokumentiert Kenny ebenfalls per Foto, vermisst ihn außerdem – auch eine Wolfsberater-Aufgabe, das Monitoring – und nimmt schließlich etwas davon in einer Tüte mit. Die Losung wird er später in ein Labor nach Hannover schicken, dort wird sie genetisch untersucht, um die Wanderbewegungen der Wölfe verfolgen zu können, und um festzustellen, was die Tiere gefressen haben. Markieren dürfen nur der Rüde und die Fähe, nicht die Welpen. Die bekämen dann Ärger von ihren Eltern. An anderer Stelle finden sich ein paar Pfotenabdrücke im Matsch – Wolfsspuren? Alva war es jedenfalls nicht. Sie könnten also von einem Wolf stammen, aber auch von einem anderen Hund. Beide sind so eng verwandt, dass man die Abdrücke nicht so einfach unterscheiden kann.

Doch warum finden sich so viele Losungsreste auf dem Forstweg, hier, wo tagsüber auch Menschen und Fahrzeuge unterwegs sind? „Wölfe legen weite Strecken zurück, und wenn sie dabei Energie sparen können, dann tun sie es“, erklärt Kenny. Das Laufen auf einem glatten Forstweg ist schlichtweg auch für Wölfe effektiver, als sich durchs Unterholz zu arbeiten. Und so werden manche der Wege nachts zu regelrechten Wolfs-Highways. Derzeit sind nur erwachsene Tiere unterwegs, sollte es Junge geben, liegen die nämlich noch im Bau und werden dort gefüttert. Im letzten Jahr hatte das Göhrder Rudel fünf Welpen, wie Fotos belegen – man darf gespannt sein, wie viele es in diesem sind. Die Tiere leben hier in kleineren Familienverbänden und nicht in großen Rudeln. Normalerwiese wandern die Jungen des Vorjahres ab, nachdem sie erst noch bei der Aufzucht der neuen Welpen geholfen haben, und gründen ein eigenes Rudel.

Vermeintlicher Konkurrent

Aber bei weitem nicht alle Wolfsjungen kommen durch: „Die Welpensterblichkeit im liegt im ersten Jahr bei 50 Prozent“, erzählt Kenny, „Wölfe werden in Deutschland meist vier bis sechs Jahre alt, könnten theoretisch aber ähnlich wie Haushunde bis zu zwölf Jahre alt werden. Doch viele sterben bei Verkehrsunfällen, außerdem werden immer wieder illegal Tiere abgeschossen und heimlich „entsorgt“, irgendwo verscharrt. Angeblich haben schon mehrere Jäger sie mit wildernden Hunden verwechselt – wer es denn glauben mag… Denn nicht alle Jäger begrüßen die Rückkehr des Wolfes, viele sehen in den Tieren Konkurrenz – es ist genau die alte Konkurrenz, wegen der der Wolf in Deutschland einst ausgerottet wurde. Haustierschutz spielte sicher ebenfalls eine Rolle.

Bis heute gilt der Vorfahr unserer Haushunde vielen als blutrünstiges Raubtier, das wahllos Weidetiere zerfleischt und auch für den Menschen gefährlich ist – Märchen wie Rotkäppchen sind jedem geläufig, Pressebilder von gerissenen Schafen heizen die Stimmung auf. Kenny hält mit nüchternen Fakten dagegen: „In den letzten 20 Jahren gab es keine Übergriffe von Wölfen auf Menschen“, sagt er, „und in ganz Europa in den vergangenen 60 Jahren nachweislich nur sechs Tote durch Wölfe, davon fünf durch übertragene Tollwut.“

Regulativ im Wald

Am Breeser Grund

Jäger, die gegen die Rückkehr der Wölfe in unsere Landschaften sind, behaupten, die Aufgabe der Wölfe würde die Jägerschaft mindestens genauso gut erledigen. Doch das ökologische Gefüge ist sehr viel filigraner und komplizierter: Wölfe fressen vor allem kranke und schwache Huftiere Hasen und andere Tiere, denn die können nicht so schnell fliehen und sind so einfacher zu jagen. Dadurch, dass sie vor allem die kranken Tiere töten und diese sich damit nicht vermehren können, helfen die Räuber, den Genpool der Beutetiere gesund zu halten – und sogar zu verbessern. Seit es wieder Wölfe in Deutschland gibt, sind die Huftiere nachweislich rund zehn Zentimeter größer und auch gesünder. Und es sind ja erst ein paar Jahre, dass die Wölfe wieder regulierend im Wald eingreifen! So entwickeln sich zum Beispiel Hirsche und Rehe durch den Fressdruck weiter: Vor allem die schnellen, geschickten und schlauen Tiere überleben.

Wölfe ernähren im Wald außerdem andere Tiere mit, bis zu 50 andere Arten fressen am Wolfsriss, erzählt Kenny. Auch das bleibt nicht ohne Folge: Seit es in der Göhrde wieder ein Wolfsrudel gibt, kommen hier zum Beispiel auch wieder Seeadler vor. Die Kadaver der Beutetiere schließlich düngen sogar noch den Wald. Die Wölfe selbst sieht man auf einer Wolfswanderung aber so gut wie nie, sie sind sehr scheu. „Wölfe haben grundsätzlich Angst vor Menschen und vor Neuem“, sagt der Wolfsberater, deswegen flüchten sie normalerweise vor Menschen. Und auch, wenn viele Medien reißerisch anderes vermitteln: „Umfragen ergeben immer wieder, dass 70 bis 80 Prozent der Deutschen für den Wolf sind.“

Die Natur kehrt zurück in den Wald

Wir verlassen den Forstweg, biegen ab in den Breeser Grund: Eine mystische Landschaft mit einzelnen alten Eichen, Buchen und fahl weißen Birken, die im Nieselregen unwirklich, fast traumgleich im Heidekraut stehen. Der frühere Hutewald, eine gemeinschaftliche Waldweide, wird heute von Schafen licht und offen gehalten.

Zunderschwamm an altem Holz

Aus der Ferne schreit ein Eichelhäher. Ein wenig weiter einen Waldweg entlang, steht linkerhand ein toter Baum, an dem große Zunderschwämme wachsen. Die trockenen, großen Pilze befallen nur kranke Bäume. Auch wieder Totholz im Wald zu lassen, ist enorm wichtig: Es bietet Insekten und kleinen Tieren wie Salamandern Lebensraum.

Die Göhrde sieht hier wirklich nicht mehr so aus, wie man das in einem Wirtschaftsforst erwartet, mit Bäumen in Reih und Glied und in Monokulturen gepflanzt. Sondern an vielen Stellen schon wieder wie ein arten- und abwechslungsreicher Wald. Hier werden nämlich Teile des ehemaligen Forsts im Rahmen des LÖWE-Waldschutzgebietskonzepts der Niedersächsischen Landesforsten (LÖWE = langfristige ökologische Waldentwicklung) wieder sich selbst überlassen, um erst zu einem Wald und irgendwann sogar zu einem urwaldähnlichen Zustand zurückzukommen. Und zu dem gehören auch Tiere wie der Luchs, der Fuchs, die Wildkatze und der Wolf. Deswegen wird Wolfsberater Kenny Kenner auch zukünftig mit Befürwortern wie Zweiflern auf die Spur der Wölfe in der Göhrde gehen und ihnen die Tiere und ihre wichtige Rolle im Wald erklären, denn: „Wolfswanderungen bewirken etwas. Viele Menschen schauen danach anders auf den Wolf.“

 

 

Mehr Infos zum Wendland und der Elbe in Niedersachsen findet ihr hier.

Wohnen und Wolfswandern: Wolfsberater Kenny Kenner gehört zusammen mit seiner Frau Barbara und zwei weiteren Partnern das Hotel Kenners Landlust in Göhrde Dübbekold. Das 160 Jahre alte Fachwerkhaus hat 40 Betten, als Hotel ist es seit dem Jahr 2000 im Einsatz. Von Beginn an war hier alles konsequent bio: „Als wir anfingen, waren wir die Öko-Spinner, heute gelten wir als Trendsetter“, sagt Barbara Kenner dazu. Die rund dreistündigen Wolfswanderungen bietet ihr Mann Kenny an jedem 2. und 4. Samstag im Monat an. Wer noch mehr über die Tiere erfahren will, kann als Erwachsener oder auch als Familie an einer Wolfswoche teilnehmen.

Wenn ihr mehr als Wolfslosung sehen möchtet: In Gefangenschaft könnt ihr einige Tiere im Wolfcenter Dörverden sehen. Die Wölfe sind dort teilweise so sehr an Menschen gewöhnt, dass man sie ganz nah erleben kann. Meinen Beitrag darüber findet ihr hier im Blog.

Lust auf mehr Wald? Hier gehts zu Iris` Beitrag zum WeltWald Bad Grund und zu meinem zum erwachenden Frühlingswald.

Noch ein Tipp für Naturliebhaber: Wenn ihr im Wendland seid, besucht den Höhbeck. Der Höhenzug an der Elbe ist ein Hot Spot der Artenvielfalt. 760 Pflanzenarten wurden gezählt, viele davon gelten als bereits ausgestorben. Stefan Reinsch schützt und entwickelt das Gebiet mit dem Verein ArtenReich.

Buchtipp: Jede Menge gute Ziele und Geschichten zum Wendland gibts im Buch 111 Orte im Wendland, die man gesehen haben muss von Christine Izeki und Gerald Roemer, erschienen im emons Verlag (ISBN 978-3-7408-0352-0, 17,50 €). Das Buch wurde mir vom Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt. Das hatte aber keinen Einfluss auf meine Meinung: Das Buch lohnt sich, vor, während und nach einer Reise ins Wendland!

Meine Reise ins Wendland wurde unterstützt vom Marketingbüro Wendland.Elbe und der Tourismus Marketing Niedersachsen GmbH.

9 Kommentare

  1. barbara kenner sagt

    Liebe Anke,
    vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel, einer der besten, die ich über Kennys Arbeit gelesen habe! Wir hoffen auf viele Menschen, die neugierig auf unseren neuen alten Mitbewohner im Wald sind. Es war uns ein großes Vergnügen, Dich bei uns zu Gast zu haben.
    Liebe Grüße barbara kenner

  2. ach ja, das wendland. ich bin nach den letzten castor-aktionen nicht mehr dort gewesen.aber die von dir beschriebene wolfstour würde ich auch gern mal mitmachen…
    best
    p.

    • Hallo Peter,
      ging mir genauso, das letzte Mal war ich vor einer Ewigkeit dort, und damals nicht aus touristischen Gründen. Jetzt werde ich schneller wiederkommen, es gibt noch so viel zu entdecken. Nimm die Wolfswanderung doch einfach als Anlass, mal wieder hinzufahren!
      Schöne Grüße
      Anke

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