Ein lauter Knall in der weiten, weißen Einöde. Direkt neben mir. Ich reibe mir fest die Ohren, ich höre kaum noch ‘was. Doch ich blinzle schnell zwischen den weißblau glänzenden Eisbergen hindurch und bete zu Gott. Hoffentlich ist sie rechtzeitig in die Tiefe getaucht und hat den Feind gespürt. Ich kann die süße, kleine Robbe nicht mehr sehen, vielleicht hat sie Glück gehabt. Und Zahnlücken-Daniel Pech. Der Inupiaq-Eskimo nimmt die große Schrotflinte runter und guckt traurig aufs Wasser. „Wir jagen schon seit 4000 Jahren Robben und Wale hier oben“, erzählt mir Daniel von der alten Tradition. Er ernähre die ganze Familie davon. Wir sitzen in einem winzigen Fischerboot im hohen Norden von Alaska.
Das Ewige Eis
Der eiskalte Wind pfeift mir um die Nase. Mir fröstelt bei null Grad. Daniel lacht: „Es ist warm heute, im Winter solltest du mal mit rausfahren, da sind’s oft minus 40 Grad.“ Ich sitze dick eingepackt in Skijacke und Wollmütze mit meinem Mann und Vater auf einem klapprigen Boot inmitten imposanter Eisgebilde auf der azurblauen, eiskalt-glitzerndem Chukchi Sea an der Nordküste von Alaska. Bevor es zum Angeln in den warmen Süden des US-Staates geht, wollen wir das Ewige Eis sehen.
Der Außenborder knattert, rattert. Überall schwimmen Eisschollen sanft übers Wasser, kein Mensch, kein Angler weit und breit.
Totale Einöde – und doch faszinierend. Es ist drei Uhr in der Früh, doch taghell. Von Mai bis August scheint hier 24 Stunden lang die Sonne. Die innere Uhr spielt verrückt, ich werd’ kaum müde. Für Einheimische viel Zeit zum Jagen und Fischen.
Wir sind vor ein paar Stunden in Barrow angekommen, keine 1200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Ein kleines Eskimodorf in Alaska, die nördlichste Gemeinde der USA. 4300 Einwohner, 62 Prozent Inupiaqs.
Die größte Population von Ureinwohnern im Norden. Mitten im ewigen Eis. Hier führt keine Straße mehr hin, nur kleine Flugzeuge und Frachtschiffe erreichen die kleine Ortschaft.
Barrow am Arktischen Ozean gehört zu den ältesten bewohnten Orten der Vereinigten Staaten; archäologische Funde hier lassen auf menschliche Besiedlung seit dem Jahre 800 v.Chr. schließen.
Eine karge, einsame Tundra jetzt im Sommer, nur ein paar Ornithologen ziehen mit Fernglas und Kamera bewaffnet durch die grau-grüne Mondlandschaft, gespickt mit kleinen Seen.
Wenn die Eisbären kommen
Tourismus gibt’s hier kaum, ein, zwei kleine Hotel. Wir haben im King Eider Inn übernachtet, klein, einfach und cozy. Ewiges, plattes, unbarmherziges Eis auf dem Land und dem Arktischen Ozean – neun Monate im Jahr. 65 Tage tiefste Dunkelheit, ganz ohne Sonne. Da verliert man das Zeitgefühl. Die Feuerwehr bekommt Anrufe, welcher Tag es ist, erzählt Daniel. Die Zeit, wenn die Eisbären kommen, auch in die Stadt. Wie lebt man hier, wovon lebt man?
Kaum Menschen in dieser öden Einsamkeit – und doch denke ich noch oft zurück an diese paar Tage am nördlichsten Punkt der Erde, den ich je besucht habe. Die Erinnerungen leben von Begegnungen, wie so oft auf meinen Reisen.
Die herzlichen Inupiaqs
Hier sind es die Inupiaqs. Herzliche, nachdenkliche Menschen mit Witz. Sie symbolisieren für mich den eisigen, fernen Norden Alaskas, dessen Einöde gerade so spannend ist.
Etwa Daniel, wohlgenährt durch das viele Robbenfleisch, das er so gerne isst. Mit einem verschmitzten Lächeln und den kurzen Stoppelhaaren erzählt der 45-Jährige von den strengen Wintern und brutalen Eisschneestürmen. „Da werden die Babys gezeugt, und die Frauen nähen uns Mäntel und Mützen aus Robbenfell.“
Er zählt mir vier Kindern noch eher zu den kleineren Familien, die meisten haben zwölf. Wir laufen mit Daniel durch die kleine, menschenleere Stadt.
Die bunten Holzhäuser stehen auf Holzstelzen, die Gas- und Wasserrohre unter den Häusern werden das ganze Jahr über beheizt, sonst würden sie in den Boden hinab rutschen. Verrostete Autowracks stehen herum.
Fast das ganze Jahr über herrscht Dauerfrost, nur im Sommer taut der Boden ein bisschen auf. Mitten in der Einöde plötzlich ein schriller, großer Supermarkt mit blinkenden Reklametafeln. Doch nicht nur Robben- und Walfleisch für die Einheimischen?
Das volle Angebot amerikanischer Lebensmittel, nur zigmal so teuer: Chips für elf, Mayonnaise für zehn Dollar, aber von italienischem Weißbrot bis hin zu Munition und Waschmaschinen ist alles vertreten. Ich staune. Alles muss ein- und ausgeflogen werden.
Hohe Arbeitslosenquote in Barrow
Das Leben hat sich verändert in Barrow: Seitdem man 1968 in der Prudhoe Bay auf Öl stieß, keine 50 Meilen entfernt, und die Leute bald merkten, dass es sich um die größten Erdölvorkommen der USA handelte. Die Einheimischen waren plötzlich reich. Die Ureinwohner Alaskas erhielten als Kompensation für den Landverbrauch insgesamt rund 962 Millionen Dollar und eine Beteiligung an Öl-Einnahmen inklusive Krankenversicherung. „Viele in Barrow arbeiten nicht mehr“, erzählt mir Daniel. Sie ruhen sich auf ihrer jährliche Dividende von bis zu 3000 Dollar aus. Daniel nicht, er führt Touristen durch seine Heimatstadt. Eine Arbeitslosenquote von zirka 21 Prozent bestätigt es.
Eine trockene Stadt
Wir passieren ein riesiges Polizeigebäude, es sticht hervor zwischen den Holzbaracken. Mit dem Öl kam jedoch auch die Kriminalität, der Alkohol wurde ein Problem für die Inupiaqs – so wurde Barrow eine „trockene Stadt“, alkoholische Getränke dürfen nicht mehr verkauft, aber importiert werden.
Noch immer bringt die Sonne die Eisschichten auf der Arctic Sea zum Leuchten, es ist vier Uhr in der Früh. 324 Tage im Jahr steigen die Temperaturen nicht über null Grad. Plötzlich eine Menschenansammlung auf einer Einfahrt, Männer rufen Daniel herbei. Doch er zieht mich zunächst weiter, „das willst du nicht sehen“.
Robbenjagd meist fern von Touristen
Ich entdecke einen großen Seehundkadaver mit blutender Schnauze auf einem Anhänger. „Wir fürchten uns hier vor Tierschützern und negativer Publicity, deshalb halten wir die Robbenjagd meist fern von den Touristen“, erklärt er mir. Auch wenn die Inupiaqs alle erdenklichen Lebensmittel im Supermarkt bekommen könnten, auf der Speisekarte steht ganz oben noch immer Robbe und Wal.
Das ist Teil ihrer Tradition, ihrer Kultur. Laut Gesetz ist ihnen erlaubt, jedes Jahr fünf Grönlandwale zu fangen, doch die blutige Angelegenheit im April und Mai ist umstritten. Für die Eskimos eine große Sache: Wenn der tote Wal schließlich an Land gezogen wird, gibt es ein Fest mit vielen Tänzen für alle Bewohner, „jeder bekommt ein Stück Fleisch ab – und die Kinder haben schulfrei.“
Mehr Infos zu dem größten und nördlichsten Staat der USA: Alaska. Und wer noch eine Story aus Amerika lesen möchte: Hier elf Tipps zu New York mit Kindern.
Danke Sandra für diesen Bericht. Wie kommt ihr auf die Idee dort hin zu fliegen? Ich war im Sommer 1973 in Ostgrönland. Konnte bei einer Robbenjagd mitfahren. Das Essen von Seeforellen und Robbenfleisch war ausgezeichnet gut. Grüße aus Italia.