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Buchen und Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund

Buchengrün, kreideweiß, ostseeblau: Zu Besuch bei alten Buchen und brüchigen Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund auf Rügen.

Alte Buchen, endlich sich selbst überlassen

Ziemlich dunkel ist es hier unten. Das dichte Blätterdach, das sich weit oben über den sonst eher kahlen Stämmen der Buchen schließt, lässt nur wenig Licht auf den Boden fallen. Kein Strauch, keine Blume wächst hier, jetzt jedenfalls nicht mehr jetzt, im Herbst. Dafür bedecken den Boden eine dicke Schicht brauner Blätter und Reste von Bucheckern. Dazwischen liegen herabgestürzte morsche Äste und hin und wieder auch ein ganzer Baum, der den letzten Wintersturm nicht überstanden hat. Als sogenanntes Totholz ist er nun alles andere als tot, sondern dient als Wiege für neues Leben. Indem er Fledermäusen und Siebenschläfern, Eidechsen, Bienen, Käfern und Pilzen Lebensraum bietet und später, spröde und schwammig geworden, Wasser speichert.

Nationalpark Jasmund

Wir stehen im Nationalpark Jasmund auf Rügen. In der Ferne hört man ganz leise die Ostsee an die Kreidefelsen branden, wüsste man es nicht besser, könnten die zivilisationsgewöhnten Ohren es für eine ferne Autobahn halten. Nur 31 Quadratkilometer ist er groß, der kleinste unter den insgesamt 16 Nationalparken in Deutschland.

Hans Knapp erzählt, wie das Gebiet vor 30 Jahren zum Nationalpark wurde

Rund zwei Drittel der Fläche sind mit Buchenwald bewachsen – allerdings keinem echten Urwald, wie der promovierte Biologe und emeritierte Professor Hans Dieter Knapp betont. „Wir haben hier keine echten Urwälder mehr, sondern alte Wälder. Manche Bäume sind um die 400 Jahre alt. Ab und an finden sich darin auch noch Reste von urwaldähnlichen Wäldern. Ein echter Urwald ist per Definition nie genutzt worden, der war immer sich selbst überlassen“, erklärt er und stützt sich auf seinen gewundenen Wanderstab aus Eschenholz. Dennoch ist dieses Waldgebiet ein ganz besonderes und unbedingt schützenswertes: Es ist der größte zusammenhängende Buchenwald an der Ostseeküste.

Wenn Bäume Augen haben

UNESCO Weltnaturerbe Alte Buchenwälder

Rotbuchen können hunderte von Jahren alt werden, und erst nach 30 Jahren tragen die Bäume zum ersten Mal Bucheckern. Wenn man wie ich zwischen Buchenwäldern aufgewachsen ist, den Baum also total gewöhnlich findet, verblüfft vor allem dieser Fakt: Die Buche gibt es nur in Europa. Sie prägt seit der letzten Eiszeit vor rund 12 000 Jahren unseren ganzen Kontinent. Buchen begannen damals, nach der großen Kälte, sich aus ihren letzten Vorkommen in Südeuropa weit nach Norden auszubreiten. Und tun das bis heute. Derzeit wachsen nur bis Südskandinavien Buchen.

Wandern und staunen im Nationalpark Jasmund

493 Hektar davon gehören deshalb seit dem Jahr 2011 auch zum UNESCO-Weltnaturerbe. Mitten im Schutzgebiet liegen nämlich besonders artenreiche Buchenwälder, die vom Menschen nur sehr wenig beeinflusst sind. Zusammen mit 77 weiteren alten Wäldern in zwölf europäischen Ländern sind sie im Welterbe „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“ vereint. Gemeinsam bedecken diese Wälder eine Fläche 920 Quadratkilometer – und sehen dabei abhängig vom Standort ganz unterschiedliche aus: hochwüchsig und hallenartig ohne Strauchschicht, knorrig und strukturreich oder sogar gedrungen und zwergförmig am Fels.

Auf dem Küstenweg

Rügens Kreideküste zieht jedes Jahr mehr als eine halbe Million Besucher an

Der Küstenweg läuft manchmal weit im Wald, manchmal nur wenige Meter von der Kliffkante entlang, etwa an der Victoria-Sicht. Hier hat man von einem kleinen Balkon aus Metall einen atemberaubenden Blick auf die Kreideküste und hinab auf die Ostsee, die rund hundert Meter weiter unten ans Land brandet. Dabei nagt sie unaufhörlich am Kalkstein, fräst kleine und größere Kerben hinein, manchmal sogar Buchten. In der „Piratenbucht“ soll der Legende nach der sagenhafte Pirat Klaus Störtebeker ein Versteck gehabt haben. Wahrscheinlich ist der Freibeuter nur eine Legende, aber das stört den Mythos um seine Figur nicht.

Die weißen Kreidefelsen von Rügen jedenfalls gehören zu den großen deutschen Sehnsuchtszielen. Deutschlands größte Insel zählt im Jahr rund 1,5 Millionen Besucherinnen und Besucher, und etwa die Hälfte davon besucht den Königsstuhl. Angezogen nicht zuletzt durch Caspar-David-Friedrichs berühmtes Bild, auf dem der Maler der Romantik – nicht ohne eine gehörige Portion Kitsch – drei Personen vor dem Abgrund der weißen Klippen verewigt hat.

Caspar-David-Friedrich-Landschaft

Wenn sich nicht gerade busseweise Besucher*innen in Richtung eingezäuntem Aussichtspunkt schieben, könnte man sich bis heute mittendrin in dem Gemälde wähnen. Der Blick auf die weißen Felsen und das Meer dahinter sind einfach phänomenal schön, Kitsch hin oder her. 118 Meter über dem Meer stehen wir auf dem berühmtesten Kreidefelsen, dem Königsstuhl. Ob sein Name wirklich daher kommt, dass hier einst diejenigen zum König erkoren wurden, die die Felswände am schnellsten hinaufkletterten? Oder, so die andere Legende, dass der schwedische König Carl XIII. hier auf einem Stuhl eine Seeschlacht beobachtete? Egal. Vielleicht war ja einfach auch nur die einem König würdige Aussicht namensgebend.

Irgendwie auch ein Motiv der Romantik: Blumen vor dem Abgrund

Caspar David Friedrichs Bild jedenfalls zeigt die nahe Feuerfelsenschlucht, die ihren Namen daher hat, dass man hier im frühen 19. Jahrhundert zur Unterhaltung brennende Reisigbündel die Klippen hinab warf, weiß Hans Dieter Knapp. Und es zeigt nicht, wie oft behauptet, die Wissower Klinken.

Wie vergänglich diese Landschaft ist, zeigen die (Reste dieser) Klippen dafür umso deutlicher: Die zackigen Felsen ragten jahrelang an der Uferkante weit gen Ostsee hinaus und gehörten zu den wichtigsten Besuchermagneten der Kreideküste. Bis sie im Februar 2005 spektakulär ins Meer stürzten. Meer, Stürme und Nässe nagen weiter an den Klippen. Auch die derzeitige Aussichtsfläche am Königsstuhl droht früher oder später in die Ostsee zu stürzen. Derzeit plant man eine kontrovers diskutierte Besucherbrücke mit künstlicher Plattform, um auch zukünftig die spektakuläre Aussicht über die Kreideklippen im Nationalpark Jasmund zu ermöglichen.

30 Jahre Nationalpark Jasmund

Der Buchenwald scheint den Hang hinabzufließen

Und seit wann gibt es den Nationalpark hier? „Die Chance, an dieser Stelle einen Nationalpark einzurichten, haben wir im Jahr 1989, also gleich nach dem Ende der DDR ergriffen“, sagt Hans Knapp. Viel Zeit blieb dafür nicht. Im Jahr 1990 entwickelte der Gründervater des Rügener Schutzgebiets mit Kolleginnen und Kollegen das Nationalparkprogramm, und schon im September des gleichen Jahres fiel der Beschluss, das Schutzgebiet einzurichten. Ohne Knapps unermüdlichen Einsatz für den Nationalpark hätte es diesen in seiner heutigen Form wohl nie gegeben. Aber auch in der gerade frisch wiedervereinigten Bundesrepublik sei es dann noch ein jahrzehntelanger, steiniger Weg gewesen, Forstwirte und andere Interessengruppen zu überzeugen, dass Wälder in Nationalparken keine Pflege und Nutzung brauchen, erzählt der frühere Biologie-Professor weiter.

Seit dem Jahr 2017 lässt man die Wälder endlich ganz in Ruhe. „Und jedes Jahr wird es wilder, schöner, natürlicher im Nationalpark“ schwärmt der Experte. Leider aber nicht überall. Im Gegenteil. Knapp stützt er sich erneut auf seinen Wanderstab und sagt mit Blick auf die großen Buchen am Jasmund: „Wenn man sieht, was seit den 2000er Jahren weltweit an Abholzung läuft, kann man das Heulen kriegen. Denn die Waldvernichtung geschieht nicht nur am Amazonas, sondern gerade auch in unseren gemäßigten Breiten und den borealen Zonen.“

Zum Beispiel gerade wieder ganz aktuell in Dannenröder Forst.

Infos zur Region

Rügen

Mit einer Fläche von 973 Quadratkilometern ist Rügen Deutschlands größte Insel. Bekannt ist die für ihre mondänen Seebäder Binz, Baabe oder Sellin mit ihrer alten Bäderarchitektur. Putbus, die „weiße Stadt“, verbreitet als am Reißbrett entstandener Ort bis heute den Geist des Klassizismus. Und dann sind da noch viele kleine Orte mit reetgedeckten Fischerhäusern, der kilometerlange Betonbau Prora aus der Nazizeit, die Boddengewässer und vor allem die majestätischen Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund.

Der Nationalpark Jasmund

Nationalparke sind die Refugien wilder, unberührter Natur inmitten unserer Kultur- und Industrielandschaft. Pflanzen und Tiere können sich hier, außerhalb menschlichen Einflusses, in ihren natürlichen Lebenszyklen entwickeln. Das Motto in Nationalparken lautet: Hier darf Natur Natur sein. Bitte haltet euch an die Regeln, wenn ihr einen Nationalpark betretet: Verlasst die Wege nicht, macht keinen Lärm und nehmt euren Müll wieder mit. Und bleibt im Nationalpark Jasmund unbedingt den Kliffkanten fern! Sie können abbrechen. Wirklich. Jedes Jahr ereignen sich hier nur aus Leichtsinnigkeit oder der Jagd nach dem spektakulüärsten Selfie tödliche Unfälle.

Besuch im Nationalpark

Die Nationalpark-Kernzone ist autofrei. Besucher lassen ihr Auto auf dem Parkplatz in Hagen oder Sassnitz stehen und wandern oder fahren mit dem Shuttlebus zum Königsstuhl. Der Zugang zu den Kreidefelsen am Königsstuhl kostet 9,50 Euro. Im Preis ist die interaktive Ausstellung mit Audioguide im Nationalpark-Zentrum inbegriffen. Verpasst nicht den gut gemachten Film über die Entwicklung der Wälder. Neben dem Gebäude ragt übrigens ein 1886 gepflanzter Mammutbaum gut 30 Meter in die Höhe. Und er wächst fleißig weiter…

Nationalpark -Zentrum Königstuhl mit großer Ausstellung: www.koenigstuhl.de

Nationalpark Jasmund: www.nationalpark-jasmund.de

Unesco-Welterbeforum: welterbeforum-koenigsstuhl.de 

Welterbe Alte Buchenwälder: www.weltnaturerbe-buchenwaelder.de

Infos zu Rügen: https://www.auf-nach-mv.de

Tipp: Der Bildband „Neue Wildnis. Nationalparks in Mecklenburg-Vorpommern“ von Monika Lawrenz, Jürgen Reich und Roman Vitt zeigt in stimmungsvollen, harmonischen Fotografien Mecklenburg-Vorpommerns drei Nationalparke Jasmund, Müritz und Vorpommersche Boddenlandschaft und ihre Bewohner. Frisch erschienen im Tecklenborg Verlag, ISBN 978-3-944327-79-2, 28,50 Euro

… Lust auf mehr Wildnis in Norddeutschland? Im Bildband „Wildnis Niedersachsen“ stellen wir zusammen mit drei der besten Naturfotografen Deutschlands die „Wildnisse um die Ecke“ vor. Und wenn ihr ein Buch kauft, denkt bitte immer dran: amazon ist reich genug, aber die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen in den Innenstädten brauchen unsere Unterstützung.

Noch eine Buchen-Nationalpark-Geschichte aus dem Nationalpark Hunsrück-Hochwald gibt es hier zu lesen: Im Wildkatzen-Urwald. Oder bei Jana in ihrem Blog Fußläufig erreichbar: Zipfelmützen

Meine Reise in den Jasmund Nationalpark hat der Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern unterstützt, danke! Den Bildband „Neue Wildnis“ hat mir der Tecklenborg Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.

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