Im Nationalpark Kellerwald-Edersee in Nordhessen wächst der Buchenurwald von morgen. Auf dem Urwaldsteig, dem Kellerwaldsteig oder dem Knorreichenstieg taucht man jetzt ganz tief ins frische Frühlingsgrün ein.
Man möchte den Moment anhalten. Das frische Hellgrün der sich gerade entrollenden Buchenblätter wird auch diesmal bald wieder verschwunden, schon Ende Mai dunkelgrünen Sommerblättern gewichen sein. Jetzt bedecken den Waldboden noch die Frühblüher und mancherorts ein Teppich aus wogendem, frisch gesprossenem Gras. Aus der Vogelperspektive gleicht die hügelige Mittelgebirgslandschaft am Edersee einem Meer aus quietschgrünen Buchen. Keine Straße und kein Ort zerschneidet die Weite.
Im Hainsimsen-Buchenwald
Kein Auto ist zu hören, kein Flugzeug. Nichts. Einfach nur Stille. Dann flötet eine Amsel, irgendwo in der Ferne hämmert ein Specht. Der Wind fährt in das alte, trockene Laub vom Vorjahr, lässt es leise am Boden rascheln. Wir wandern auf dem Urwaldsteig in Nordhessen. Der verläuft einmal um den Edersee, 66 Kilometer durch den Nationalpark Kellerwald-Edersee rund um den langgestreckten Stausee. Gerade befinden wir uns pflanzensoziologisch in einem typischen Hainsimsen-Buchenwald, in dem Rotbuchen zusammen mit Hainsimsen, einer Binsenart, wachsen.
Teilweise mit echtem Urwaldfeeling: Hier liegen umgestürzte Bäume quer über dem Weg, da geht es sumpfig durch einen Bach. An abgebrochenen Baumstümpfen wachsen Zunderschwämme. Zusammen mit anderen Pilzen zersetzen sie das Holz, lassen es mit den Jahren regelrecht zerbröseln. Während dieser Zeit bietet es als sogenanntes Totholz nicht nur unzähligen Tieren Lebensraum, es speichert auch wie ein Schwamm Wasser. Deswegen bleibt es hier im Nationalpark auch unbedingt im Wald an Ort und Stelle liegen.
Kellerwald-Edersee: Nationalpark, IUCN-Gebiet und Welterbe
Der Kellerwald ist nicht nur seit 2004 Nationalpark. Es erfüllt seit 2011 auch die strengen Kriterien der Weltnaturschutzunion IUCN und ist damit der erste Nationalpark Deutschlands überhaupt, der diese Auszeichnung erhielt. Seit dem gleichen Jahr gehören Teile des Gebiets außerdem zum Unesco-Weltnaturerbe Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas.
Auf den ersten Blick sperrig, wird beim genaueren Blick auf den Titel klar, um was für einen Schatz es sich handelt. Buchen kommen nämlich nur in Europa vor, auf keinem anderen Kontinent. Sie können hoch und schlank wachsen oder klein und gedrungen, wenn sie in Höhenlagen stehen. Nicht umsonst in die Rotbuche gerade Baum des Jahres 2022 – und besonders wertvoll sind alte, unberührte Bestände wie hier, im hessischen Kellerwald. Und sie sind gleichzeitig ein Rätsel.
„Wir kennen in Deutschland im Prinzip nur Wirtschaftswald, keinen Naturwald“, erklärt Achim Frede, Leiter der Abteilung Naturschutz, Forschung und Planung in der Nationalparkverwaltung. „Wir wissen deshalb schlichtweg nicht, wie Buchenurwald im Tiefland aussieht. Was wir wissen: Der größte zusammenhängende Buchenurwald der Erde liegt in der Urkaine, im Gebirge. So alt wie dort ist der Wald in Hessen aber noch nicht. Obwohl die Rotbuchen hier im Gebiet schon weit über hundert, hundertfünfzig Jahre auf dem Buckel haben, müssen wir nochmal hundert Jahre warten, bis wir einen Zustand wie in den Karpaten haben.“ Aber schon jetzt sind auch die hiesigen alten Buchenwälder Orte riesiger Artenvielfalt.
Waldumbau hin zu neuer Wildnis
Doch warum überhaupt hat sich genau hier, im Norden Hessens, ein relativ unberührter Buchenwald mit alten Bäumen erhalten können? Vor allem wohl, weil einst die Römer, die viel Holz brauchten und fällten, nicht bis hierher vorgedrungen sind. Und weil im Kellerwald Jahrhunderte lang Köhlerei, Waldweide und die Versorgung der Bauern mit Waldstreu und Brennholz Vorrang vor intensiver Waldwirtschaft hatte. Dafür sind auch die vielen steilen Hänge des Mittelgebirges verantwortlich, die es erschwerten, das Holz aus dem Wald zu holen.
Ab den 18. Jahrhundert wurde das Gebiet dann zum Jagdrevier für die Waldecker Fürsten und diente bis nach 1945 der hessischen Staatsjagd. Heute entsteht hier die Wildnis von morgen. 77 Quadratkilometer groß – oder klein – ist das Nationalparkgebiet rund um den Stausee, in dem zahlreiche Quellen zwischen knorrigen Buchen und Eichen, Felsfluren und Blockhalden entspringen.
Pfingstnelke und Feuersalamander
Im Nationalpark Kellerwald-Edersee leben auch 31 sogenannte Urwaldreliktarten. Das sind Pflanzen und Tiere, die hier seit Jahrhunderten und länger vorkommen, vor allem Käfer. Und sogar uralte eiszeitliche Relikte gibt es, die bekannteste im Gebiet ist die rosa blühende Pfingstnelke: 60 Prozent des Weltbestandes dieser uralten Nelke finden sich in Deutschland, hier im Kellerwald gibt es das größte Vorkommen in Hessen. Von den Nelken stammen übrigens alle heutigen Gartennelken ab.
Neben der Pfingstnelke, die von etwa Mitte Mai bis Mitte Juni auf exponierten Schutthalden der Süd- und Westhänge ihre Blüten entfaltet, liegt im Nationalpark auf der Entwicklung der „Small Five“ besonders Augenmerk: Seltene Arten, die hier guten (Über-)Lebensraum finden. Konkret sind es der Veilchenblaue Wurzelhalsschnellkäfer, die Bechsteinfledermaus, der Feuersalamander und der Ästige Stachelbart, ein Pilz. Auch große „Big Five“ gibt es in Anlehnung an afrikanische Schutzgebiete, hier sind es Rotbuche und Rothirsch, Luchs, Wildkatze und der Schwarzstorch, ein scheuer, gefährdeter Waldbewohner.
Der Wald wandelt sich ganz langsam wieder zu Wildnis. Damit heimische Baumarten – vor allem die Rotbuche – sich gut entwickeln können, müssen an manchen Stellen auch mal standortfremde Bäume, etwa Douglasien, gefällt werden. Die würden sich sonst nämlich durchsetzen. Und an anderen Stellen vertrocknen Buchen, weil sie den extremen Hitze- und Dürresommern der letzten Jahre nicht gewachsen waren; der menschengemachte Klimawandel fordert auch hier immer deutlicher seinen Tribut. Eingriffe in das Ökosystem sind aber die Ausnahme. Wo immer möglich, lässt man im Nationalpark die Natur machen und so neue Wildnis entstehen. Erleben lässt die sich auf zahlreichen gut ausgeschilderten Wanderwegen, Stiegen und Steigen. Am besten zusammen mit einem fachkundigen Ranger.
Auf dem Knorreichenstieg
Uwe Schäfer rückt den Hut mit der breiten Krempe zurecht, das Erkennungszeichen eines jeden Nationalpark-Rangers. Die Sonne blendet; wir stehen auf der Nordseite des Sees im „Erweiterungsgebiet“ des Nationalparks Kellerwald-Edersee. Die Flächen nördlich und östlich des Gewässers gehören erst seit dem Jahr 2020 zum Nationalpark. Hier wachsen überdurchschnittlich alte und totholzreiche Rotbuchenwälder. Und uralte, verwunschene Eichen. Durch sie führt der Knorreichenstieg. Auf rund 17 Kilometern zieht sich der Naturlehrpfad zieht durch die Naturwälder der Edersee-Steilhänge.
Wir laufen auf Seeniveau los. Die Landschaft verändert sich zusehends. An den extrem steilen Hang der Kahlen Hardt krallen sich bald nur noch kleine Eichen mit verschlungenen Ästen an den Boden, ab und zu mischt sich eine Elsbeere dazwischen. Hier möchte man nicht ins Rutschen kommen. Weit, weit unten schimmert das Blau des Sees, Hitze flimmert schon jetzt, im Mai, über der hellen Blockschutthalde. Die Landschaft wirkt mit den knorrigen Eichen immer mehr wie am Mittelmeer.
Auf der anderen Seite des Wanderwegs liegt der blanke Stein offen. Eichen wachsen mit freiliegenden Wurzeln daran, kraftvoll und verwunschen zugleich. Immer wieder bleiben wir stehen, schauen nur und lassen die Eindrücke wirken. Waldbaden advanced. Auch hier ist es wie gestern am anderen Ufer fast unwirklich still – auf dem Edersee dürfen nämlich keine Motorboote fahren, Straßen sind weit entfernt. „An dieser Stelle stehen die ältesten Bäume Deutschlands“, erzählt Uwe Schäfer, „manche dieser Eichen sind tausend Jahre alt.“ Tausend Jahre! Warum es keine Buchen gibt, wissen wir schon: Wo es so steil und vor allem so trocken ist wie hier, können nur Eichen überleben. Sie haben auch hier die Buchen verdrängt.
Rund um die frühere Hünselburg
Einige Kilometer weiter vereint sich der Knorreichenstieg mit der Lindenbergroute. Rosa blühend säumt Zwiebeltragender Zahnwurz den Wanderweg, wer genau hinschaut, erkennt die dunklen namensgebenden Zwiebelchen am Stiel. An den Resten der Hünselburg mit ihrem mittelalterlichen Wall laufen wir vorbei, den Edersee immer rechterhand tief unter uns. „Dies hier ist ein typischer Linden-Eichen-Blockhaldenwald“, erklärt der Ranger und deutet auf eine Linde zwischen den Rotbuchen. Auf dem Weg ragen schroffe Felsen empor, gut, dass alle feste Wanderschuhe tragen. Dann geht es steil bergab.
Plötzlich deutet Schäfer auf einen trockenen Baum mit Loch: ein Waschbärbaum. Die Tiere mit der markanten Gesichtsmaske haben sich, lernen wir, von hier aus nach ganz Deutschland ausgebreitet. Man wilderte im Kellerwald im Jahr 1934 zwei Paare aus, um die Artenvielfalt zu erhöhen, und wollte ihnen wohl auch an den Pelz. Inzwischen bedroht der anpassungsfähige Kleinbär vielerorts die letzten wilden Schildkröten und als Nesträuber zahlreiche Vogelarten.
Wir steigen weiter ab und sind bald am Wasser angekommen. Der Stausee ist jetzt, Anfang Mai, ganz gefüllt, manche Buchen stehen sogar mit den Füßen im Nass. Das wird sich im Laufe des Sommers ändern, wenn das Seewasser nach und nach über die Eder in Weser und Mittellandkanal fließt und diese so schiffbar hält.
Schloss Waldeck, Strandbäder und Staumauer
Apropos Edersee: Rund um den langestreckten, gewundenen Stausee im Tal der Eder gibt es nicht nur Wildnis, sondern am Ufer auch mehrere Strandbäder, Yachthäfen mit Elektrobooten, Bootsverleihe und Segelschulen. Weiße Ausflugsschiffe kreuzen auf dem Wasser; am Ende des Sees ist die Staumauer der Publikumsmagnet.
Unbestrittenes bauliches Highlight der Region ist das rund zweihundert Meter über dem Wasser thronende Schloss Waldeck: Zur einstigen Höhenburg der Grafen von Waldeck fährt eine historische Gondelbahn hinauf, die kleinen gelben, roten und blauen Kabinen bieten gerade mal zwei Personen Platz. Oben angekommen, auf der Aussichtsterrasse des Schlosses dann noch einmal den Traum in Blau und Grün genießen: Einen besseren Blick über den See und das wilde, frühlingsgrüne Buchenmeer drumherum gibt es kaum.
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Infos zum Nationalpark Kellerwald-Edersee
# Das NationalparkZentrum Kellerwald mit seiner Ausstellung zum Gebiet liegt in Herzhausen am westlichen Ende des Edersees, nicht verpassen: den gut gemachten Film im 4D-SinneKino. Auch toll für Kinder!
# Im WildtierPark leben heimische Tiere wie Rothirsch, Uhu und Wildkatze, am Eingang informiert das BuchenHaus über das Ökosystem Wald.
# Die KellerwaldUhr nimmt ihre Besucherinnen und Besucher mit auf Zeitreise in den früheren und den zukünftigen Buchenwald.
# Am besten zu Fuß: Zahlreiche gut markierte Wanderwege durchziehen das Gebiet. Bei einer geführten Wanderung mit Ranger erfährt man alles Wichtige zur Natur und ihren Bewohnern.
Touristische Highlights rund um den Edersee
# Der Baumkronenweg Edersee nutzt das natürliche Gefälle des Hanges, um spannende Einblicke in das Leben zwischen Baumwipfeln zu geben.
# In der historischen Waldecker Bergbahn schwebt man in wenigen Minuten 120 Höhenmeter hinauf zum Schloss Waldeck.
# Gegen Ende des Sommers tauchen manchmal die Reste von fünf versunkenen Dörfern und die Aseler Brücke im sinkenden Wasser auf. Das Edersee-Atlantis zieht immer viele Besucher an.
# Mit der Gästekarte MeineCard+ sind nicht nur die regionalen Busse und Bahnen in der GrimmHeimat NordHessen frei nutzbar, mit ihr ist auch der Eintritt zu vielen Freizeiteinrichtungen kostenlos.
Den Nationalpark Kellerwald-Edersee habe ich auf Einladung des Nationalparks Kellerwald-Edersee und der Edersee Marketing Gesellschaft besucht.
Mehr Buchen? Einen Unesco-Buchenurwald gibt es auch im Nationalpark Jasmund und mehr Buchenwildnis im Nationalpark Hunsrück-Hochwald. Was zu Frühblühern haben wird auch. Und 11 Tipps zu Frühlingswanderungen im ganzen Land.
Die Gegend sieht sooo schön aus, da muss ich auch bald mal hin. Wo kann ich denn eine Rangerführung buchen?
Liebe Grüße
Su Si
Hallo Su Si, die Wanderungen mit Nationalparkranger findest du auf der Nationalpark-Seite (oben verlinkt). Sehr zu empfehlen, man übersieht alleine echt viel.
Liebe Grüße
Anke