Mythen und Schauermärchen im Norden: Manchmal, so erzählt man sich, raunen in der Nordsee vor Ostfrieslands Küste Stimmen und läuten Kirchenglocken. Denn im Watt liegen zahllose versunkene Dörfer.
Eine weite, grüne Marschlandschaft, die höchste Erhebung der Deich mit Schafen, davor Salzwiesen oder Strand: So sieht die niedersächsische Nordseeküste heute vielerorts aus. Doch das war nicht immer so. Die Landschaft hat sich verändert. Sehr sogar: Wo heute die Ostfriesischen Inseln wie Perlen auf der Schnur in der Nordsee liegen, war früher einmal die Küste. Vier Kirchen und an die 20 Orte sind seit dem Mittelalter verschwunden, sind dem steigenden Meeresspiegel und der Erosion zum Opfer gefallen. Und das allein in der mittleren Region der niedersächsischen Nordseeküste.
Das Meer hat die fruchtbare Marschenlandschaft im Laufe der Zeit restlos aufgefressen. Auch die Inseln veränderten sich, manche verschwanden ganz, neue entstanden – und so wird das auch zukünftig sein. Die Nordseeküste wandelt sich permanent, wird geformt vom dynamischen Zusammenspiel von Landabtragung und –bildung durch marine Sedimente. Und in nager Zukunft immer stärker durch den klimabedingten Anstieg des Meeresspiegels.
Hunderttausende Tote
Tote gab es ohne Zahl im heutigen Watt. Immer wieder versanken Wurtendörfer bei mächtigen Sturmfluten im Meer. Erstmals überliefert sind die rund 20 000 Opfer der Julianenflut in 12. Jahrhundert, später die der legendären „Grote Mandränke“, „großes Ertrinken“ genannten Sturmflut im Jahr 1362. Bei der kamen auf einem Schlag vor allem in Nordfriesland an die 100 000 Menschen und unglaublich viel Vieh ums Leben, das legendäre Rungholt ging unter. Nur zwölf Jahre später verschwindet in Ostfriesland das Dorf Westeel von der Landkarte, das Meer erreicht die Stadt Norden.
Weil es noch keine wirkungsvollen Deiche gibt, wandern die Dorfbewohner stetig weiter ins Landesinnere, bauen ihre Siedlungen immer wieder neu auf: In der dritten Allerheiligenflut 1532, die große Teile der belgischen, niederländischen und deutschen Küste überschwemmt, gehen, Atlantis gleich, die Dörfer Ostbense und Osterbur unter. Dass es sie gegeben haben muss, belegt ein Eintrag im Kirchenbuch von Westerbur: Dort ist der Verkauf von großen Steinen notiert. Und tatsächlich hat man im Watt Findlinge gefunden, wohl die Fundamente der alten Kirche.
Friedhof Watt
Und so ist das Watt heute voller archäologischer Stücke – und gleichzeitig ein riesiger Friedhof. Immer wieder tauchen alte Kirchhöfe mit Resten von Gräbern und menschlichen Skeletten auf, die einst in den Dörfern beigesetzten Erwachsenen, Kinder, Säuglinge. Sicher sind auch viele Opfer der Sturmfluten darunter. Außerdem finden sich mannigfaltige Zeugnisse früherer Besiedlung: Brunnen, Ackerfurchen, Tierknochen und Keramikscherben. Sogar Reste einfacher Deiche und alte Sieltore lassen sich identifizieren.
Versunkene Siedlungen
Schon seit der vorrömischen Eisenzeit war die Gegend besiedelt. Man hat nicht nur römische Münzen gefunden, sondern sogar noch ältere Gegenstände. Eine Konzentration von Funden deutet auf eine frühere Siedlung hin. Manchmal lassen sich auf alten Karten noch die Namen von Kirchen und Kirchdörfern entdecken, etwa die von Otzum zwischen Langeoog und Spiekeroog. Auch Oldendorf, Westbense und Ostbense müssen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts noch existiert haben. Ein Gedenkstein am Deich bei Esens erinnert an die versunkenen Siedlungen.
Dichtung, Mythen und Legenden
Der aufgrund einer Warmzeit steigende Meeresspiegel erodierte die auf Warften erbauten Dörfer nach und nach, immer wieder beschleunigt von verheerenden Sturmfluten. Vor allem die Überflutungen befeuerten Mythen und Legenden: „Das Pferdegetrappel“ etwa erzählt von einem Pakt der Dorfbewohner von Bense mit dem Teufel. Das blieb natürlich nicht folgenlos: So verschlang das Meer „glatt wie eine Schlange“ schließlich das Dorf und seine bösen Bewohner. Und wer kennt nicht die berühmteste Novelle Theodor Storms, „Der Schimmelreiter“. Darin will ein Deichgraf dem Watt Land abringen. Eindrücklich schildert Storm die Mystik des Wattenmeers.
Meeresstrand
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
(Theodor Storm)
Das Glockengeläut von Itzendorf
Stimmen, Glocken, Geister… besonders bei Nebel und jetzt im November zeigt sich das Watt düster und bedrohlich. Bis heute sei bei Sturm an der Norddeicher Küste Glockengeläut zu hören, heißt es. Es soll die alte Kirche von Itzendorf sein: Die große Weihnachtsflut im Jahr 1717 und die Neujahrsflut 1720 besiegelten das Schicksal des Ortes. Dabei war der Sitz der mächtigen Häuptlingsfamilie Itzinga einst eine blühende Siedlung mit eigenem Hafen. Allerdings hatte sich das Deichvorland durch Torfabbau zur Salzgewinnung über die Jahre abgesenkt, und so brach die Nordsee bei den Sturmfluten durch den Deich und überschwemmte die Siedlung. Die Menschen zogen auch hier weiter ins Landesinnere, errichteten einen neuen Deich und überließen ihr Dorf dem Meer.
Itzendorfs Häuser stehen schon lange nicht mehr im Watt. An die Zeit der Besiedlung des damaligen Festlands erinnert heute nur noch die Itzendorf Plate, eine große Sandbank. Die erhebt sich bei Ebbe zwischen Norddeich und Juist ein wenig über das umgebende Watt. Und wer weiß, vielleicht läuten die versunkenen Glocken ja wirklich bei Sturm.
Infos zur Region
Wattwanderungen zur Itzendorf Plate bietet Wattführer Heiko Campen in Norden Norddeich an.
Viele Fundstücke von Axel Heize sind im Museum Leben am Meer zu sehen, geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Bensersieler Straße 1, 26427 Esens
Mehr Nordsee-Geschichten gibts hier: Wangerooge, Juist, Sylter Hundstage, 11 Tipps für Butjadingen mit Kindern, 11 Tipps für Borkum und 11 Tipps für Norden/Norddeich
Sehr interessanter Beitrag! Vielen Dank dafür! 🙂
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